Lord Dahrendorf, Biografie eines Hoffnungsträgers

Eine neue deutsche Biografie erinnert an den brillanten – aber Zeit seines Lebens umstrittenen – deutschen Liberalen Ralf Dahrendorf (1929-2009); gerade passend im Augenblick, da die FDP nach vierjährigem Exil wegen verpasster Fünfprozentklausel wieder in den deutschen Bundestag einzieht.

Die deutschen Liberalen haben zwar ihr Wunschziel, nach CDU/CSU und SPD Nummer drei zu werden, nicht erreicht, aber 80 von insgesamt rund 600 Sitzen sind auch nicht schlecht nach einem Kaltstart unter dem neuen Parteipräsidenten Christian Lindner, der jetzt in schwierige Koalitionsverhandlungen zu einer Kabinettsbildung steigt. Lindner hat schon versprochen, dass seine Liberalen sich dabei «nicht verbiegen» werden. Seit 1949 hatten sie oft dafür gebüsst, dass sie grösseren Partnern zu eilfertig nachgaben.

Ralf Dahrendorf, in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik der rhetorisch und intellektuell stärkste Kopf der «Gelben» (Farbe der Liberalen), war 1929 als Sohn eines prominenten Sozialdemokraten in Hamburg geboren, der nach Hitlers Machtantritt 1933 alle Mandate verlor. Kurz vor dem Abitur steckte die Gestapo den jungen Ralf für vier Wochen in ein Arbeitslager, weil er sich in einer antinazistischen Jugendgruppe hervorgetan hatte. Die britischen Besatzungsoffiziere sollten ihm das später hoch anrechnen.

Der suchende Dahrendorf wandte sich zunächst der SPD und dem Sozialistischen Studentenbund zu. Seine erste Forschungsarbeit am forsch-linken Institut für Sozialforschung mutete den jungen Freigeist zu rigide an. Er doktorierte zum Thema des Gerechten bei Marx. Aber von seinen ersten Auslandsemestern in den USA und in Grossbritannien kam er mit einer starken Neigung zur pragmatischen, forschungsoffenen Soziologie zurück, die in Deutschland damals noch eher rückständig und begriffsverhaftet war. Sein erstes Hauptsujet war die Bildungspolitik.

Freie Demokraten gaben dem feurigen jungen Redner, der bereits vielbeachtete Kolumnen in der «Nationalzeitung» und in der «Zeit» schrieb, erste Chancen. 1967 trat er der FDP bei. Die ältere Garde der Partei schockierte er mit seinem Lob des Konflikts. Nur aus einem Geist der Offenheit und aus Widerstreit habe Fortschritt eine Chance.

Aufsehen erregte 1965 sein erstes, im Konzept von der neuen amerikanischen Soziologie beeinflusstes Hauptwerk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Die FDP nahm ihn mit offenen Armen auf. Als die Jungdemokraten eine Streitdebatte mit dem rebellischen Studentenführer Rudi Dutschke abhalten wollten, verbot es die Parteileitung. Ralf Dahrendorf verliess das Parteitagsplenum, stieg zu Dutschke auf die Lastwagenbrücke und gewann die heisse Debatte nach Ansicht vieler Zeugen überlegen. Das war sein Durchbruch in der öffentlichen Meinung. Dahrendorf nannte sich lieber radikalliberal als sozialliberal. Ein starker Staat, der Eigentum schützt und für wettbewerbstaugliche Bildung sorgt, war ihm wichtig.

Mandate folgten: Bundestag, Staatssekretär im Aussenministerium, Aussenkommissar in Brüssel. Aber schon bald fühlte er sich eingezwängt. Nach scharfen, unter dem Pseudonym «Wieland Europa» verfassten Angriffen auf die erstarrte Bürokratien in Bonn und Brüssel, die man ihm sehr übel nahm, liess sich Dahrendorf 1974 überraschend zum Rektor der angesehenen London School of Economics and Political Science ernennen. Später verlieh ihm die britische Königin den Adelstitel, und er wurde «Mitglied des Oberhauses bis an sein Lebensende». Er verstand sich als Mittler zwischen englisch-pragmatischer Kultur mitsamt der Debatte auf hohem Niveau und kontinental-europäischem Erbe.

Bei der BBC war Dahrendorf bis zu seinem Tod 2009 noch oft zu hören. Eine Rückkehr in die deutsche Politik gelang ihm nicht mehr voll. Auch der «Tages-Anzeiger» setzte auf Ihn, als in Zürich die Wogen der Jugendunruhen hochschlugen und viele bürgerliche Geschäftsleute Abonnements oder Inserate kündigten: Die Geschäftsleitung lud ihn 1979 am jährlichen Dolder Meeting zu einem brillanten Referat ein. Thema: Was erwartet der liberale Leser von einer liberalen Zeitung?

Franziska Meifort: Ralf Dahendorf, eine Biografie. Verlag C. H. Beck, München 2017.

Peter Studer war Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und des Schweizer Fernsehens SF sowie Präsident des Schweizer Presserats.

von Peter Studer | Kategorie: Mediensatz

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