Journalisten als Strategen

Das «Protestscheiben» (PDF) der 121 «Tages-Anzeiger»-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter an Chefredaktion und Verleger hat einiges ausgelöst. Auf der einen Seite Häme, nach dem Motto: Da protestieren mal wieder gutbezahlte Zürcher Journis, die sich nicht mit Online befassen wollen. Oder, schlimmer: Journalisten wollen nicht wahrhaben, dass sie wirklich mal arbeiten müssen. Auf der anderen Seite dann die platte Gewerkschaftssicht, die Newsroomprojekte vor allem als Ausbeutungsinstrument überbezahlter Aktionäre sieht.

Es lohnt sich aber, den Brief genau zu lesen. Zum einen ist er sachlich abgefasst, nüchtern und klar. Er wendet sich keinesfalls gegen die Konvergenz, gegen die integrierte Redaktion oder gegen einen Newsroom. Er zementiert also nicht das Bild vom Journalisten, der sich nicht bewegen will. In seinem Kern beklagt er ein Malaise, das in den Verlagen weitverbreitet ist: Es existiert keine inhaltliche Strategie, um den bezahlten Kanal vom Gratiskanal zu trennen. Es wird mal so, mal anders gemacht. Dass hier verlags- und redaktionsintern in einem derart grossen Medienhaus keine Regeln herrschen, erstaunt.

Der «Tages-Anzeiger» hat durch die Abbaumassnahmen der vergangenen Zeit redaktionell nicht verloren, sondern gewonnen. Die Zeitung ist enorm interessant, originell und gut geschrieben. Sie setzt Themen, auch abgründige und hintergründige. Sie verfügt über eine Reihe hervorragender Autoren. Sie gewinnt immer wieder Zürcher Journalistenpreise. Das Konzept, wonach die News ins Netz gehören, die Hintergründe, Analysen und Kommentierungen in die Zeitung, könnte hier perfekt aufgehen.

Doch jedes Mal, wenn ich auf «Tagesanzeiger.ch» gehe, rege ich mich auf: Ich lese hier oft dieselben Stories und Hintergrundgeschichten wie sie in der gedruckten Ausgabe zu finden sind. Und dies gratis. Die Frage liegt auf der Hand: Wieso soll ich für die Zeitung bezahlen, wenn ich einen auf den ersten Blick weitgehend identischen Inhalt online gratis haben kann? Bei Tamedia setzt man das Konzept, das mit dem Relaunch der Zeitung und mit dem Einsatz von Res Strehle angekündigt wurde, nur zur Hälfte um. Zum Glück sind Konsumenten träge. Sonst müssten sie der gedruckten Ausgabe in Scharen davonlaufen.

Diesen Fehler sieht man bei vielen Verlagen. Die Paid-Content-Strategien erschöpfen sich in den bekannten Metered- oder Freemium-Modellen, wo man hofft, einen Leser nach ein paar Artikeln hinter die Bezahlschranke locken zu können. Eine strikte Trennung zwischen tagesaktuellen News im Netz (gratis) und Hintergrund im Print (bezahlt) sieht man kaum. Eine derartige, klar definierte Zweiteilung wäre auch für die Print-/Online-Redaktion einfacher zu handhaben. Kompetenzprobleme, inhaltliche Abgrenzungsübungen und Doppelspurigkeiten würden wegfallen.

Dieser Brief ist also nicht einfach ein Motzprogramm einer verwöhnten Redaktion, sondern ein Vorschlag für eine Inhaltsstrategie, die offenbar noch von niemandem vorgenommen wurde. Glücklich jeder Verlag, dessen Journalistinnen und Journalisten mitdenken!

Andrea Masüger ist CEO der Südostschweiz Medien.

von Andrea Masüger | Kategorie: Mediensatz

2 Bemerkungen zu «Journalisten als Strategen»

  1. Marcel Hauri:

    Word!

    Genau das werfe ich dem Tagesanzeiger – mal öffentlich, dann wieder per Mail an die Verlagsleitung, auch seit längerem vor. Warum soll ich zahlen, wenn ohnehin alles gratis im Netz erscheint? Ob sich jemand aus dem TA-Verlag bei mir gemeldet und zumindest eine halbplausible Erklärung gegeben hat, warum ich trotzdem nochmals ein Print-Jahresabonnent lösen soll? Fehlanzeige. Immerhin hat sich während einem Twitter-Ping-Pong mit Tagi-Journalisten herauskristallisiert, dass die verlagsseitige Gratis-Mentalität eine kurzfristige taktische Massnahme sein könnte. Leser mit hochwertigem Content anfixen, damit sie sich dann auf die Metered Paywall stürzen, wenn sie denn mal eingeführt wird. Ob das aufgeht?

    Und als zahlender Abonnent fühle ich mich trotzdem als dumm verkauft.

  2. «Eine strikte Trennung zwischen tagesaktuellen News im Netz (gratis) und Hintergrund im Print (bezahlt) sieht man kaum. Eine derartige, klar definierte Zweiteilung wäre auch für die Print-/Online-Redaktion einfacher zu handhaben. Kompetenzprobleme, inhaltliche Abgrenzungsübungen und Doppelspurigkeiten würden wegfallen.»

    Auch wenn diese Zweiteilung sicher einfacher zu handhaben wäre, sie würde nicht zu einem guten Angebot führen. Der Ansatz, digital ausschliesslich auf News zu setzen, wäre ein direkter Weg in die Bedeutungslosigkeit. Und online bedeutungslos zu werden, ist auch für die gedruckte Zeitung eher keine gute Strategie.

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