Deutschland, und im selben Boot wieder einmal die Schweiz, steuert auf einen neuen Medien-Hype zu: Die Angelegenheit, später der Fall, bald wohl die «Affäre Brüderle». Vor einem Jahr soll der neue FDP-Rentner eine Journalistin mit anzüglichen Bemerkungen belästigt haben. Logischerweise wurde das nicht damals publik, sondern erst heute, wo Brüderle zum Spitzenkandidaten der FDP für die Bundestagswahlen aufgestiegen ist. Nur schon dieser Umstand müsste zu grosser Vorsicht Anlass geben.
Vor zehn oder zwanzig Jahren hätten die Redaktionen, konfrontiert mit der Frage, ob sie das Thema aufnehmen sollen, eine Pause zum Denken eingeschaltet und sich gefragt: Was sind die Hintergründe dieser Geschichte? Wer hat ein Interesse am Skandal? Ist das Problem (hier Sexismus) ein individuelles oder ein generelles? Weisen anzügliche Sprüche eines Politikers auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hin?
Doch heute tritt an die Stelle der Pause zum Denken die Denkpause: Alleiniger Gradmesser für die Relevanz einer Story ist die Twitter-Einschaltquote: 100’000 Nutzer und Nutzerinnen haben sich bereits zur Angelegenheit Brüderle geäussert, also nix wie los, es braucht Interviews, Reaktionen, Analysen, Talkshows mit Soziologen, Sexologen, Psychologen und Politologen. Schliesslich, logischerweise, landet alles bei der Politik, der Bundestag verabschiedet ein Anti-Belästigungsdekret, das künftig auch Blicke auf Dekolletés unter Strafe stellt und Bauarbeiter, welche einer Blondine hinterherpfeifen, mit Arrest bedroht. Müssig zu erwähnen, dass wohl in Bälde Rücktrittsforderungen an Brüderle gestellt werden und dessen Bundestagswahlkampf gelaufen ist, genau so wie die Karriere des Bundespräsidenten Wulff.
Die Medien merken nicht, dass sie ganz aus ihrer Rolle herausfallen. Anstatt zu hinterfragen und einzuordnen, attestieren sie einer Twitter-Kakofonie, die aus den unterschiedlichsten Elementen bis hin zum blanken Unsinn besteht, eine Relevanz, nach der sie ihre Agenda richten, ja, die sie zu einer übergeordneten Richtschnur machen. Das Thema wird dann nur noch bewirtschaftet und gepusht, nach dem Motto, jeder, der etwas zu sagen hat, soll es tun. Dabei schaukeln sich die Medien auch gegenseitig hoch, jede Redaktion hat eine panische Angst, weniger schnell und originell zu sein als die andere.
Auf der Strecke bleiben jene Frauen, die tatsächlich und echt unter sexueller Belästigung leiden, sich im Gegensatz zu einer «Stern»-Journalistin aber nicht wehren können. Deren Stimmen hört niemand, weil sie irgendwo als Putzfrau oder in einem anderen Job tätig sind, den niemanden interessiert. Sie werden vielleicht sogar Opfer einer solchen Welle, weil eine solche auch immer eine Gegenbewegung auslöst, der wiederum die Schwächsten ausgesetzt sind.
Man könnte sich die Rolle der Medien in solchen Fällen tatsächlich aufklärerischer vorstellen!
Andrea Masüger ist CEO der Südostschweiz Medien.
Danke, Herr Masüger.
Frau Masüger, vieles, das Wichtigste, richig – aus meiner Sicht. Sahen Sie diese elende Jauchschejauche vergangenen Sonntag? Die eine, die wir alle sattsam kennen, liegt nicht immer verkehrt, bloss ist sie eine Fundamentalistin. Die andere kennt sich gleichermassen aus, auch wenn das mit den verschiedenen Spezies etwas daneben ging. Die Dritte macht Furore wg. 60 Tsd. Twitter-Furze (pardon). Was mir auf die Eier geht (noch einmal Pardon!): Irgendwann, in den 80- und 90-Jahren waren die Männer plötzlich Warmduscher. Sofern sie sich so verhielten, wie der Vierte ich der Jauche. Diese aberkannte Doktorin mit ihren Boxerwaden hat einen – ihren einzigen – guten Satz herausgebracht: Es kommt darauf an, wer beteiligt ist.
Der Satz «100’000 Nutzer und Nutzerinnen haben sich bereits zur Angelegenheit Brüderle geäussert» trifft das Thema nicht. Bei #Aufschrei geht es nicht um Herrn Brüderle, sondern um den alltäglichen Sexismus bis hin zu Übergriffen, die Frauen erleben und in tausenden von Tweets und hunderten von Blogeinträgen geschildert haben.
Der Brüderle-Artikel war neben anderen (Zum Beispiel der kurz zuvor im Spiegel erschienene Artikel zur Frauenfeindlichkeit der Piraten von Annett Meiritz) nur der Auslöser für die #Aufschrei-Diskussion über den alltäglichen Sexismus. Zum wirklichen Thema gemacht haben das aber nicht die etablierten Medien, sondern all die Frauen, die sich an der Diskussion im Netz beteiligt haben. Weil es ein Thema IST.
Manche Männer (vornehmlich älteren Jahrgangs wie der Autor obigen Artikels) können oder wollen offensichtlich nicht verstehen, dass Frauen heutzutage mittels Social Media etwas zum Thema machen können und dabei nicht auf einen parternalistischen Chefredakteur angewiesen sind, der für sie «einordnet» wie sie Ganze jetzt zu verstehen haben. Danke für das nette Angebot, aber wir können selber denken, uns selbst äussern und kommen tatsächlich auch mit dem ganzen neumodischen Technikkram hervorragend zurecht. Es gibt im Netz sehr viele, sehr kluge Blogartikel von Frauen (und auch einige von Männern) die in der Diskussion schon viel weiter sind als die «etablierten» Medien. Brüderle ist da schon lange kein Thema mehr.
Auch das ist offenbar nur schwer vorstellbar: Dass es tatsächlich (für einmal) nicht um die Karriere eines älteren Herrn geht, sondern um das, was Frauen tagtäglich an Sexismus und Übergriffen erleben.
Dass am Ende des Artikels der Stern-Journalistin vorgeworfen wird, mit ihrer Veröffentlichung schade sie gar «echten» Opfern ist genau eine solche unmögliche «Einordnung» auf die ich persönlich gut verzichten kann. Himmelreich hat eine Situation beschrieben, in der sich ein Mann offensichtlich danebenbenommen hat. Nun wird ihr vorgeworfen, dass sie damit »echten Opfern» schade. Das relevante Thema ist aus Sicht des Schreibenden offenbar nicht: Der Mann hat sich danebenbenommen, sondern: Die Frau, die darüber spricht, schadet dem Politiker und «anderen Frauen», den sogenannt «echten» Opfern. Ein Mann ordnet hier ein, was ein «echtes» Opfer ist. Die Journalistin Himmelreich ist es – nach seinem Dafürdünken – nicht. Nicht, weil sich Himmelreich selbst gar nie als solches bezeichnet hatte, sondern weil der Schreibende bestimmt, was ein «echtes» Opfer ist.
Und unter anderem genau gegen solche Einordnungen erhebt sich der #Aufschrei – Frauen wehren sich (endlich) dagegen, dass es ihnen nicht zugestanden wird, selbst zu entscheiden, was sie als unangenehm, unangebracht oder Übergriff empfinden. Und das auch zur Sprache bringen zu dürfen, ohne sich dafür anhören zu müssen, sie seien hysterisch oder eine verbitterte frustrierte Gewitterziege, die… (ich zensuriere das besser mal)
Darüber diskutieren die Frauen (und einige Männer) in «diesem Internet». Wer da nur eine Twitter-Kakofonie raushört, hat vielleicht nicht genau genug zugehört (zuhören wollen).
Viele Menschen äußern sich zu etwas – was gäbe es für einen besseren Gradmesser für Relevanz als diese Tatsache?
Wozu äußern sie sich – nicht zu Brüderle, sondern zu Sexismus im Alltag. Die Forderung, eine solche »Welle« provoziere eine Gegenreaktion, die den Anliegen belästigter Frauen (die »tatsächlich und echt leiden«, wie der Autor zynisch festhält), und sei deshalb medial zu unterdrücken – ist auf zwei Arten widersprüchlich: Erstens äußern sich ja auf Twitter die Frauen, die »tatsächlich und echt leiden« – und gerade das ist ja sinnvoll und wichtig. Und zweitens birgt jede Kritik die Gefahr, eine Gegenreaktion auszulösen. Wäre das ein Grund, auf Kritik zu verzichten, dann können wir aufhören zu denken.
Und zum Schluss ein allgemeiner Hinweis: Wenn sich als Mann zum Thema Sexismus äußert, dann sollte man recht vorsichtig sein, weil man vielleicht nicht abschätzen kann, was Sexismus für Betroffene bedeutet. Und so sagt Helga Hansen treffend: Die Debatte ist zwar in den Medien angekommen, wird aber nicht ernst genommen. http://hanhaiwen.wordpress.com/2013/01/29/angekommen-aber-nicht-ernst-genommen-aufschrei-in-den-medien/
Die Purzelbäume der Sexismusdebatte werden immer akrobatischer, wenn (wie oben) die eine Hälfte der an Primärmerkmalen charakterisierten Geschlechtstypen bereits unter Generalverdacht gestellt wird, wenn sie sich zur Sexismusdebatte nur schon äussert. Es ist schwierig sich vorzustellen, wie sich Sexismus noch steigern lässt. Ausserdem negiert es die lebendige Dialektik im eingebauten Sexismus der Geschlechtszuordnungen.
Vielleicht sollte die Debatte langsam etwas weiterkommen. Faszinierend ist doch das Faktum, dass wir uns alle – inmitten einer hochsexualisierten Informations- und Unterhaltungsindustrie – immer mehr in eine neue innerweltliche Askese einkerkern, die bereits Blicke auf die hergezeigten Primärmerkmale – moralisch sanktioniert. Geschweige denn die Thematisierung dieser Merkmale.
Die PuritanerInnen, würde Max Weber sagen, wussten wenigsten noch wieso sie sich in ihrem Erdental des Leidens jeglicher Körperlichkeit (bis auf die Reproduktionspflicht) enthalten mussten. Es ging immerhin um ihren Gnadenstand, also um die Zutrittsgewissheit zum ersehnten Paradies entgrenzter Sinnlichkeit. Bei uns geht es bloss um politische Korrektheit im medienwirksamen, weil moralgesättigten Täter-Opfer-Gesellschaftsspiel beim Preis unserer Skandalisierung. Die PuritanerInnen hatten es besser.
Frau Andrea Masüger: Gute Darstellung. Bravo!
Danke, @ Marie Baumann, für die Punktlandung!
@Kurt Imhof:
Ihre beiden Aussagen sind meiner Meinung nach etwas verklausuliert formuliert – wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie sagen:
1) Dass Männer kritisiert werden, wenn sie sich unbedarft über Sexismus auslassen, ist sexistisch.
2) Die Sexismus-Debatte ist verkleidete Prüderie.
Um kurz zu erklären, warum ich beide Aussagen für problematisch halte: Es dürfen sich alle Menschen zu allen Themen äußern. Aber sie können soziale Phänomene unter Umständen nicht gleich gut wahrnehmen wie andere Menschen. Weil Sexismus primär Frauen betrifft, können Männer zwar genau so gut darüber nachdenken; sie sind aber nicht in der Lage, Alltagssexismus auf gleiche Art und Weise zu erleben wie eine Frau. Deshalb sollten sie vorsichtig sein, nicht schweigen.
Feministinnen wurde schon immer vorgeworfen, prüde zu sein. Das ist, was sie »Derailing« nennen: Ablenken vom eigentlichen Thema. Sexistische Übergriffe sind Handlungen, von denen sich Menschen belästigt fühlen. Es hat nichts mit Sexismus zu tun, wenn Menschen ihre Sexualität so exzessiv ausleben, wie sie möchten. Aber viel, wenn sie dadurch andere belästigen.
@) Marie Baumann: „Manche Männer (vornehmlich älteren Jahrgangs wie der Autor obigen Artikels) können oder wollen offensichtlich nicht verstehen….“ .
Nicht bloss, weil ich einer dieser älteren Fieslinge bin, vor denen Frauen sich in Acht nehmen sollten: Ihr Argumentation ist überaus sexistisch und auch noch altersdiskriminierend.
Mir scheint, dass da eine jüngere Generation im entspannten Umgang mit Sex und Geschlechtlichkeit mehr Probleme hat als die ältere, Männer wie Frauen. Ich bin erstaunt. Kommt in der Geschichte nicht so oft vor. (Nein, ich finde Brüderles Anmache auch doof, nicht aber als ein Verbrechen, das für eine öffentlichen Hinrichtung taugt).
Masüger geht es darum, dass tausende Twittereinträge nicht schon die Wahrheit, nichts als die Wahrheit darstellen und dass da noch ein paar abweichende Meinungen Platz haben müssen, und, wenn Sie gestatten, ohne sexistische und diskriminierende Anwürfe.
@ Philippe Wampfler Schade, dass das mein Argument schwierig erscheint.
1) Sie schreiben: „Wenn sich als Mann zum Thema Sexismus äußert, dann sollte man recht vorsichtig sein, weil man vielleicht nicht abschätzen kann, was Sexismus für Betroffene bedeutet.“ Dieser Generalverdacht ist selbst sexistisch und vergisst die Wechselwirksamkeit sexueller Typisierungen zwischen den Geschlechtern.
2) Es ist nicht verkleideter Puritanismus (lassen wir jetzt die Unterschiede zur Prüderie beiseite). Es ist Puritanismus und zwar exakt im Sinne der innerweltlichen Askese (im Unterschied zur wesentliche leichteren ausserweltlichen Askese der Mönchsorden), weil wir inmitten einer hochsexualisierten Unterhaltungs- und Modeindustrie – also mitten im kommerzialisierten ‚Sündenpfuhl‘ der Spätmoderne – unsere zwischenmenschlichen Interaktionen auf den Vorderbühnen unserer Lebens streng kontrollieren müssen. Dieser Gegensatz ist interessant. Ganz platt nun: Inmitten sexuell aufgeladener (Selbst-)Darstellungen in der Öffentlichkeit, ist das Sexuelle als solches einem kommunikativen Tabu ausgesetzt.
Disclaimer: Auch ich bin selbstverständlich gegen plumpe Anmache – wer nicht?
«Bei uns geht es bloss um politische Korrektheit im medienwirksamen, weil moralgesättigten Täter-Opfer-Gesellschaftsspiel beim Preis unserer Skandalisierung.»
Nein, Herr Imhof, es geht nicht um Prüderie, sondern etwas ganz anderes: Sexismus und Übergriffe haben mit Sexualität und dem lustvollen Wechselspiel der Geschlechter überhaupt nichts zun tun. Es geht dabei um etwas ganz anderes: Um Machtausübung. Was Sie und Fred David mit Ihrer Argumentation wunderbar belegen: Man(n) geht nicht darauf ein, und fragt sich: Könnte es tatsächlich so sein, wie ganz ganz viele Frauen es empfinden? Sondern man(n) sagt: Ihr habt ein Problem mit eurer Sexualität. Nein, haben wir nicht, wir haben ein Problem mit männlichem Machtgebaren, das sich gegenüber Frauen oft in sexualisierter Form zeigt.
@ Fred David, unangenehmes Gefühl, das mit der Diskriminierung, nicht? (Der flapsige Tonfall war Absicht) Umgekehrt machen Sie ja genau wieder das selbe und sagen, Ihre Generation hätte einen entspannteren Umgang mit Sexualität. Woher wollen sie das im Übrigen wissen? Empfinden sie als Mann es vielleicht einfach entspannter, weil Frauen Ihrer Generation noch dazu erzogen wurden, dass ihre Bedürfnisse weniger wichtig sind als die des Mannes? Hauptsache, der Mann ist glücklich und befriedigt? Der Mann definiert was richtige/gute/normale Sexualität ist; der Mann definiert, was Belästigung ist und was nicht ect? Das ist in der Tat entspannter. Für den Mann.
Das Weltbild der unzähligen Altherrenrunden muss sich neu justieren: drei weitere Haupstadtjournalistinnen berichten dem NDR von Brüderles Schlüpfrigkeiten – immer noch ein Hype mit der Stern-Journalistin als Täterin? http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_3/panoramadrei475.html
@) Marie Baumann: Wir verlassen hier den Zuständigkeitsbereich von medienspiegel.ch, aber lassen Sie mich schon noch sagen: Mit den heute 60+ haben Sie es mit einer Generation zu tun, die in jeder Beziehung ziemlich frei und selbstbewusst sozialisiert worden ist, gerade auch die Frauen; das hat Frauen und Männern gut getan: keine ängstliche Generation. Und schon gar keine demütige.
herr masüger unterschätzt die wirkung der sozialen medien, in diesem fall war es twitter mit dem hashtag #aufschrei. die mainstream medien konnten fast nicht anders, als das thema aufnehmen, warum beschreibt sascha lobo klug wie immer:
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-soziale-medien-sind-die-digitale-strasse-a-880227.html
„…er legte mir nach dem Interview die Hand aufs Knie und sagte, wir sollten unbedingt einen Wein zusammen trinken, am besten noch heute…“ (oben aus @)Christof Mosers NDR-Link). Ist das Körperverletzung? Ist das eine Verbalattacke? – Da sagt doch eine Frau mit überlegenem Lächeln: Wir wollen Privates und Berufliches nicht durcheinander bringen – und schiebt die Hand energisch weg. Und klar ist die Lage und der Mann ist elegant gedemütigt.
Als Mann würde ich sowas in dieser Situation nicht tun, find’s aber auch nicht sooo entsetzlich. Bin ich deswegen nicht ganz normal?
Bin ich hier der einzige Journalist , der nach dem Interview beiläufig eine weibliche Hand auf dem Knie spürte? In der eindeutigen Absicht, den Inhalt möglichst freundlich zu gestalten, durchaus auch noch bei einem Glas Wein oder so. Es war von meiner Seite aus sehr schnell und auf freundliche Art klar , dass es beim Interview bleibt. Ich hatte keinerlei Nachteile, obwohl die Dame genügend Machtmittel gehabt hätte, es mich spüren zu lassen. Nicht im Traum käme ich auf die Idee, diese Frau blosszustellen, obwohl ich es nicht als besonders angenehm empfand.
Der NDR mixte da in seinem Bericht unzulässig alles zusammen, damit’s passt: Was alles so in Hotels passiert , oder ein 16jähriges Mädchen, das schweinisch angegangen worden ist. Das sind doch ganz andere Kategorien, über die es keine Diskussion gibt.
Hier ist die Rede von erwachsenen Frauen und Männern, die nicht in einem Abhängigkeits Verhältnis stehen.
@Baumann und @Christoph Moser. Die Idee ist doch, dass wir uns hier auf dem Medienspiegel etwas über das Phänomen selbst unterhalten und nicht den Diskurs wiederkäuen. Empfindungen ‚wachsen uns wie Haare auf dem Kopf‘, darüber lässt sich ewig streiten, auch Männer haben Übergriffs- und Nötigungserfahrungen und die empirisch vorliegende Differenz liegt in den Geschlechterrollen. Das wissen wir alles. Inhaltlich ist an dieser Anmachdebatte nichts neu.
Neuer ist, dass auch plumpe Anmache, die bis dato, wie viele zuvor durch Klatschkommunikation sanktioniert wurde, massenmediales Thema wird sowie die Diffusionsdynamik über Social Media und Informationsmedien (also SM-IM via hashtags, beides braucht es, um solche Flutwellen zu erzielen). Dies gelingt aber nur unter Bedingung einer verallgemeinernden Täter-Opfer-Dichotomie, die das allseits ausbeutbare moralische Kapital individueller und medialer Empörung liefert. Über solche Moralisierungswellen werden gesellschaftsweit Alltagsinteraktionen moralisch aufgeladen und es entsteht eben jener Gegensatz, den ich spannend finde: Die Affektkontrollen im Interaktionsverhalten müssen im Kontext einer hochsexualisierten Medien- und Unterhaltungsöffentlichkeit verschärft werden. Das ist innerweltliche Askese. Wir haben sie auch beim Rauchen, Trinken, Spucken, …
Die alte Garde, angeführt von Herrn Masüger. Ich muss schon sagen: Allerhand, was Sie sich herausnehmen. Einfach so Ihre Meinung kundtun und drauflos differenzieren. Und das als M a n n ? Als Mann über 50, wie man munkelt. Sie haben Nerven. Schamlos das. Lassen Sie mich ein Schlückchen Lindenblütentee nehmen, bin gleich wieder bei Ihnen.
Wo war ich? Ach ja: Sie sind so ein Mann, sehr sehr alt. Das scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, sollte es aber, denn andere Qualifikationen als das Geschlecht und nichts als das Geschlecht gelten zur Zeit nicht. Was legitimiert Sie also, hier mitzutun?
Sie sind ein Mann, Exponent eines verbrecherischen Systems, es sei denn, Sie sind Feminist. Das Formular kann bei mir oder bei jeder beliebigen Frau unter 50 (wir sind alle gleich, wir haben alle Recht) im Netz bestellt werden. Sie unterschreiben, wir verzeihen. Feministische Bekenntnisse sind erwünscht. Auch das nicht mitbekommen? Wo leben Sie eigentlich? In Graubünden? Ja, das erklärt einiges.
Eine weitere Möglichkeit, wir sind keine Unmenschen, wir lassen immer ein Türchen offen: Wir fesseln Sie, wir knebeln und beschweren Sie, in den Rhein mit Ihnen. Wenn Sie ersaufen, lassen wir Sie laufen. Einverstanden?
Haben Sie nicht kapiert: D a s geht heute nicht mehr! Wo bleibt eigentlich Ihre Moral? Ich will Sie ja nicht belehren, aber: Moral ist absolut. Moral ist unteilbar, sie ist einfach. Keine Ausflüchte, keine Hintertürchen. Es gibt Richtlinien. Dafür haben Sie Augen bekommen, Herrgott nochmal: um Richtlinien zu lesen. Es gibt wieder Wahrheiten, meine Herren. Grosse, ganze, einzige.
Vergessen Sie das Individuum, ein schlechter Scherz aus Aufklärungstagen.
Sie dachten: Der Himmel ist leer. Da hatten Sie völlig recht. Aber wo ist das Personal des Himmels hin? Sie haben drei Sekunden Zeit. Keine Antwort? Ins Internet gefallen. Ins Internet. Die richtige Antwort lautet: Das Personal ist im Internet. Scheint spurlos an Ihnen vorbeigegangen zu sein. Im schlimmsten Fall sind Sie getauft oder/und hetero. Lassen Sie mich raten: Sie essen Fleisch? Und nicht einmal geschieden? Ich bin entsetzt. Ich meine zu wissen: Sie sind Raucher. Und keine Ambition für den New Yorker.
Und dann eine Meinung kundtun, diese alten Karnivoren, irgendeine Altherrenmeinung. Einfach so. Ungefragt. Hier. Dort. Da könnte ja jeder kommen. Sie lenken ab von den wesentlichen Punkten. Differenzierung als Irreführung, als Verwischung der eigenen Spur, der eigenen Schuld, das ist die Taktik. Sie halten sich wohl für raffiniert? Dabei wäre alles so klar, so eindeutig. Alles. Liegt doch auf der Hand. Weiss doch heute jede.
@Imhof: Gerne beim Phänomen bleiben. Das Phänomen ist, dass Blogs und Social Media den alten Medien um Längen voraus sind, was Einordung und Bewertung des Falls und des alltäglichen Sexismus betrifft. Die klügsten Texte habe ich nicht in Zeitungen gelesen, sondern in Blogs. Und das verwundert nicht, wenn man sieht, wer die Zeitungen führt und wie das Thema vielerorts nicht ernst genommen wird. Den Höhepunkt setzte heute der Chef der deutschen Wirtschaftswoche, der twitterte, es sei unsäglich, wie der Stern seine Journalistin Brüderle zugeführt habe. Hier werden Opfer und Täter verdreht, wie ich es im Jahr 2013 nicht mehr für möglich hielt. Kein Zufall ist auch, dass alle jüngeren Journalistinnen und Journalisten, mit denen ich gesprochen habe, das Thema für sehr wichtig und die Debatte für sehr wertvoll halten – und (fast) alle Beispiele eigener Erlebnisse auf Lager haben. @Fred David: Nein, mir wurde noch nie im beruflichen Kontext eine Hand auf die Schenkel gelegt und ich habe auch noch nie jemandem die Hand auf die Schenkel gelegt. In meiner Generation ist’s sonnenklar, dass der Respekt vor dem Gegenüber dies verbietet. Deswegen die Prüderie auszurufen ist lächerlich. // PS: ich bin übrigens nie einer sexistischeren und machoideren Männer-Generation begegnet als Alt68ern. Da gäbe es noch einiges aufzuarbeiten.
Autsch, das tut weh…
Wem?
@ Fred David
Ich fasse zusammen:
1. «Argument»:
Ihr habt doch einfach eine total verkorkste Sexualität! (ICH und MEINE Generation hat das nicht)
2. «Argument»:
Aber mir ist das auch mal passiert! (Einmal im ganzen Leben? Das ist eben der Unterschied)
3. «Argument»:
Ich hab mich gewehrt. (Wenn ICH das kann, können das alle anderen in allen anderen Situationen auch)
4. «Argument»:
Ich fands nicht schlimm. (Was ICH nicht schlimm finde, hat auch niemand anders schlimm zu finden)
Das ist die Sozialisation als Mann: ich finde /sage/meine. Dann IST das so.
Ich kann auch schon sagen, was als Nächstes kommt:
5. «Argument»:
Aber mir hat eine Frau (10 Frauen, 100 Frauen) gesagt, dass sie das auch nicht schlimm findet/sich auch wehren kann/ihr das noch nie passiert ist ect.
Es gibt jetzt aber bei #Aufschrei tausende Frauen, die sagen: Wir haben schon viele unangenehme Erfahrungen gemacht und wir finden das nicht ok. Nun kann man wieder bei Argument 1 anfangen und das ganze endlos durchdeklinieren oder sich mal Gedanken dazu machen, was denn wohl wirklich dahinter stecken könnte, dass der #Aufschrei ein solches Echo ausgelöst hat. Vielleicht, dass viele Frauen schlichtweg nicht mehr bereit sind, gewisse männliche Verhaltensweisen hinzunehmen? Und es geht bei #Aufschrei wie gesagt schon lange nicht mehr um die Brüderle-Sache, sondern oft um weitaus heftigere Sachen, die sich in sehr sehr vielen Frauenleben ereignen. Und wo ihnen auch oft das Gefühl gegeben wird: Ach komm, du bist doch selbst schuld, du übertreibst, ect, die Argumentation ist eben da oft genau die gleiche wie oben.
Um doch nochmal auf Brüderle zurückzukommen: Das wirklich «skandalöse» an der ganzen Sache ist ja nicht das, was er getan hat, sondern dass eine Frau sich erdreistet, das öffentlich zu machen. Eine «Lappalie» in den Augen vieler. Aber wenn sich solche «Lappalien» und andere Ereignisse in vielen Frauenleben immer wieder ereignen, sind eben keine «Lappalien» mehr. Es nervt, stört, verletzt, erniedrigt. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?
Btw: In den ach so sexuell befreiten 60iger und 70iger Jahren konnten die Behörden unverheirateten Müttern noch ihr Kind wegnehmen aufgrund deren «liederlichen Lebenswandels» (unverheiratet schwanger = liederlicher Lebenswandel). Da haben sich die Frauen sicher sehr gleichberechtigt gefühlt in ihrer Sexualität.
@ Christof Moser Lieber Christof, ich lese eigentlich alles von Dir und das hat mir schon viel beigebracht, aber hier verrennst Du Dich.
Du kannst das Phänomen nicht als solches reflektieren. Vielmehr drückt Deine Gesinnungsethik aus allen Poren Deiner Schreibe:
1. Tweets haben doch keine höhere moralische Dignität, als andere Textsorten. Welches Argument willst Du hier in Anschlag bringen? Wir hatten schon viele und wir werden noch sehr viele Social-Media-Bubbels erleben, die keineswegs den Standards zivilisierter Auseinandersetzung genügen. Die Moral schierer Masse – welch Tonnenideologie – rechtfertigt sich doch nicht selbst. Ausserdem sprechen die Postings auf den Online-Newssites eine ganz andere Sprache. Das ist auch das Internet.
2. Man müsste doch in diesen xy’tausend Tweets, da hat doch Andrea Masüger recht, tatsächlich die Spreu vom Weizen trennen, bevor man mit dieser Zahl die Moralkeule beschriftet und auf jeden eindrischt, der des Weges kommt.
3. In der Tat es gab interessante Blogs, aber auch unsägliche, die exakt dasselbe wiederholten, was schon x-mal entäussert wurde. Genauso wie es interessante und unsägliche Beiträge in den Medien gab (Spiegel und Süddeutsche online schrieben in der Hektik direkt voneinander ab). Halte Deinen Blick auch nach dem Hansi-Voigt-Inti offen.
4. Du rekurrierst auf jüngere Journalistinnen und Journalisten, die aller Deiner Meinung sind. Glaub mir an der Uni kann man ganz andere lebensweltliche Empiriken zur dieser Frage machen. Ausserdem müssen wir immer bedenken, dass unsere personalen Netzwerke vor allem in moralisch aufgeladenen Fragen zur Homogenität neigen.
5. Unfreiwillig komisch führt Dich Deine Gesinnungsethik zu einem höchst persönlichen Schenkelauflage-Dementi – was sofort die Frage aufwirft, wohin Du den sonst Deine Hand gelegt hast? Irgendwann muss sie ja irgendwo hin (natürlich bei allem Respekt).
6. Schliesslich versteigst Du Dich hier in ein politisch höchst unkorrektes Bashing respektabler (und knackiger) Personen im besten Alter und forderst ausgerechnet diejenigen auf in sich zu gehen, die alle Untiefen und Gipfel der Geschlechterdebatten mitgemacht haben. Was soll das?
7. Politisch ebenfalls höchst inkorrekt übergehst Du hier den erhellenden Beitrag von Mara Meier, die Redeverbote auf der Basis nicht erwerbbarer Merkmale in bester aufklärungsliberaler Tradition in den Orkus schiesst.
Können wir nun über das Phänomen, seine Folgeeffekte und vielleicht sogar über seine Kollateralschäden diskutieren?
Pingback: Debatte um #aufschrei: Zum Totlachen, wenn das Thema nicht so ernst wäre | SILVER TRAIN
Ich wollte mich eigentlich nicht mehr einmischen – aber beim Begriff »Redeverbot« hat’s mich dann doch gepackt.
Wenn über Sexismus gesprochen wird, geht es nicht darum, dass irgend jemandem das Reden verboten wird. Sondern dass es ignorant ist, wenn man sich zu einem Problem äußert, das strukturell Frauen viel stärker und häufiger betrifft als Männer. Das ist keine sexistische Aussage, sondern eine Tatsache. Natürlich kann ich mich auch über die Situation in den Zürcher Kinderkrippen äußern, wenn ich im Emmental wohne und noch nie eine KITA von innen gesehen habe. Und ich kann mich auch als Mann über Erfahrungen mit strukturellem Sexismus äußern. Ich darf sogar, Männer dürfen sich generell immer über alles äußern und tun das. Aber sie können schlaue Sachen sagen und weniger schlaue. Wenn man über eine Erfahrung spricht, die man selber nicht gut kennt, dann wirds einfach schwierig, was Schlaues zu sagen.
(Das betrifft – um auf die Kernfrage zurückzukommen – auch die Diskussion über Twitter. Von den hier Mitlesenden und Mitschreibenden kann niemand die Spreu vom Weizen trennen, so weit ich das beurteilen kann. Natürlich kann man sagen, vielleicht ist das viel Spreu und wenig Weizen – aber was bringt das genau?)
Vielleicht sollten halt all die KommentIERenden einfach mal wieder, die ach so langweilige NZZ lesen. Da hat der chauvinistische, ordoliberale Ulrich Schmid, dessen ideologische Schreibe selbst einem engagierten Gegner noch ab und zu ein Lächeln entlockt, eine der durchaus passableren Einordnung des ganzen Blabla geliefert:
http://www.nzz.ch/aktuell/international/sexismus-debatten-in-deutschland-1.17967267
Und da hat Schmid gleich noch einen Sexismus in einen Nebensatz verpackt („und natürlich fehlte auch der alte dämliche Hinweis nicht, Frauen sollten sich eben nicht so provokativ verhalten, um die Männer nicht zu «reizen». „), bei ihm darf man von Absicht ausgehen :)
Die Einordnung wirkt vielleicht geradezu zahnlos im Vergleich mit vielen anderen durchaus spannenden Beiträgen – Blogs seien hier durchaus lobend mitgemeint. Doch was all diesen Beiträgen gemeinsam ist: irgendeinen brachialen Denkfehler begingen eigentlich alle… Manchmal ist Zurückhaltung eine Zierde.
„Können wir nun über das Phänomen, seine Folgeeffekte und vielleicht sogar über seine Kollateralschäden diskutieren?“
Lieber Kurt Imhof, wir sind uns doch einig, dass es hier nicht um das Phänomen geht, dass sich Brüderle in angetrunkenem Zustand mal anzüglich benommen hat. Und wir sind uns doch auch einig, dass es nicht um die Masse an unreflektierten, allseits bekannten Kommentare und Tweets geht. Das was hier neu ist und mich verblüfft hat und mich weiterhin beschäftigt, das sind die Tweets von den Frauen, die ihre Stimme gefunden haben, um endlich das zu äussern, was sie schon lange bedrückt. Es sind Frauen darunter, die ich kenne, und tausende andere, die ich nicht kenne, deren Schilderung mir aber gewaltig Eindruck gemacht haben. Es war eine Lawine. Es war eine Martin-Luther-King-Rede, die sich da bildete in meiner Timeline. Ich habe mich wahnsinnig gefreut über den Mut, diesen Akt des Empowerment.
Wie kann man ihnen das bloss zum Vorwurf machen? Wie kann man es bloss lächerlich machen? Wie kann man es bloss kleinreden? Wie kann man es bloss mit Askese verwechseln? Ich kann das nicht verstehen ausser als eine Angst vor Machtverlust.
Die Folgeeffekte werden sein, dass sich Männer von nun an grausam in Abseits manövrieren, wenn sie meinen, sie müssten einen Teil der Gesellschaft nicht mit Respekt begegnen. Sie werden spüren, dass niemand mehr mitlacht. Sie werden merken, dass Sexismus das Gegenteil von sexy ist. Das ist kein Kollateralschaden, sondern ein längst fälliger Fortschritt. Ein Schritt hin zu einem unbeschwerteren Geschlechterverhältnis.
Jetzt hab ich grad einen ähnlichen Gedanken aufgeschrieben, wie David, nun denn trotzdem:
@Kurt Imhof
Und was steht hinter der Moral? Macht. Und darum geht’s doch eigentlich. In dem Masse, in dem immer mehr Frauen beruflich «mächtiger» werden, können sie auch die Umgangsformen, die beruflich (und natürlich gesamtgesellschaftlich) gelten, mitgestalten. Das ist es, was gerade passiert. Es bedeutet Macht, mitbestimmen zu können, was in einer Gesellschaft als «moralisch verwerflich» gilt.
Solange Frauen wirtschaftlich von Männern abhängig oder in der Arbeitswelt nur die Sekretärin und nie die Chefin waren, konnten sie das nicht. Sie konnten sich auch – ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen – oft nicht wehren. Das ändert sich nun langsam.
#Aufschrei umgeht oder besser untergräbt durch die Social Media auch (noch) bestehende Machtpositionen (z.B den oben erwähnten «Chefredakteur») und demonstriert dadurch auch noch auf einer anderen Ebene wie brüchig die alten Machtverhältnisse werden.
Deshalb auch dieser Widerstand von (Entschuldigung, aber ist so) älteren Herren, die noch in der alten Machtordnung nach «oben» gekommen sind. Die jüngeren kennen aber gar nichts anderes, sie sind viel «gleichberechtigter» aufgewachsen. Ich bin sicher, heutige Kinder werden eines Tages die aktuellen Fernsehdiskussionen zum Thema mit genau soviel Unverständnis betrachten, wie meine Generation die Abstimmungsplakate, die gegen das Frauenstimmrecht warben.
Danke @Philippe Whampfler, dass sie es auf den Punkt gebracht haben. Männer dürfen sich zu allem äussern. Frauen verweist man egal mit welcher Argumentation oder in diesem Fall Formel (Anzahl der Tweets) sofort in Zuständigkeitsbereiche und weist ihnen Kompetenz zu oder verweigert sie ihnen.
Seit 30 Jahren habe ich immer wieder solche aufflammenden Diskussionen zum Thema Sexismus erlebt. Es hat sich an den inhaltlichen Kommentaren der Herren in meiner Generation nichts geändert.
Es wird verharmlost, verleugnet, es entspricht nicht ihrer Wahrnehmung – ergo – ist es kein Problem, sondern wird nur von ein paar Feministinnen zu einem gemacht.
Jetzt ist eine öffentliche Diskussion auf einem Medium entstanden, die sich nicht so einfach kontrollieren lässt, also spricht man einfach dem Medium jegliche Aussagekraft ab.
So einfach ist das nicht, meine Herren. Es ist einfach ein Thema, das ihr nicht beherrschen könnt, weil ihr nicht über die entprechenden Erfahrungen verfügt.
Es muss eine Menge Angst dahinter stecken, so wie sich viele von Euch als Experten zum Thema äussern. Ihr redet ja mit Ausnahmen jener die das Phänomen zu verstehen suchen, nicht sachlich mit. Ihr versucht nur diese Sache wie ihr es seit Jahrzehnten tut, unter den Teppich zu kehren. Es kratzt nämlich an eurem Selbstverständnis, an euren durch nichts als euer Geschlecht legitimierten Machtpositionen.
Aber egal, was ihr als selbsternannte Experten zum Thema in redaktionell geführten Medien dagegen anführt, diesmal wirds nicht funktionieren. Über die Social Medias habt ihr keine Kontrolle. Und all das, was ihr euch bisher geweigert habt ans Licht zu bringen, weil ihr dachtet es interessiert eure LeserInnen nicht, kommt jetzt doch ans Licht.
#Aufschrei vermittelt unzähligen Frauen endlich das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein mit ihrer Wahrnehmung. Zu wissen, dass es nicht an ihren persönlichen und bisher als „falsch“ eingestufter Wahrnehmung liegt, sondern, dass es tausende von Frauen gibt, die dieselbe Wahrnehmung haben.
Und all diese Frauen tragen dieses Wissen nach aussen in ihren Alltag und das wird etwas bewirken. Es wird genau das bewirken, was ihr bis jetzt verzweifelt versucht habt zu verhindern.
Und ihr müsst eurer Weltbild ändern, denn die Frauen werden sich zunehmend verweigern sich in eure etablierten Hierarchien einzuordnen und sich euren Vorstellungen entsprechend zu verhalten.
Sehenswert übrigens das Medienmagazin ZAPP zum Thema: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/medien_politik_wirtschaft/sexismus121.html
Jetzt hab ich mal Krach mit @Kurt Imhof, das hat seltenheitswert. Kurze, summarische Antwort: ein Drittel der Frauen in meinem Umfeld erlebte sexistisches Verhalten, Übergriffe, sexuelle Gewalt, hat deswegen berufliche Ambitionen abgebrochen, Lebensläufe oder Verhalten anpassen müssen, und so lange das so ist, wirkt es wie ein Hohn, wenn von der gesellschaftlich dominierenden Gruppe der Männer 50+ das Thema kleingeredet oder in den Kontext von Puritanismus oder Political correctness gestellt wird. Und das passiert gerade, in Zeitungen (FAZ, Wirtschaftswoche), im Fernsehen (Jauch), in Kommentarspalten (hier und anderswo).
Das ist eben die gute Sache an Social Media: JEDER kann sich äussern. Viele haben es getan – Frauen wie Männer. Ich finde, daraus sind zum Teil wirklich sehr fruchtbare Diskussionen entstanden.
Deshalb eben, Herr Masüger, messen die Medien der Masse an Tweets unter #Aufschrei eine solche Bedeutung zu: Es sind eben nicht nur Tweets, es sind einfach Stimmen von Menschen. Es könnte genauso gut eine riesige Lawine von Leserbriefen sein – aber ob die dann alle Platz in der Zeitung gefunden hätten? Und ich finde es doch irgendwie absurd, dieser Menge an Stimmen ihre Relevanz einfach absprechen zu wollen.
Hier bietet eben das Internet eine gute Chance für die klassischen Medien: Es kann Themen zur Diskussion stellen, die der Bevölkerung auf den Nägel brennen.
Ja, dabei entstehen vielleicht viele Wiederholungen, Abschweifungen vom Thema, etc. Hier kommen dann eben die klassischen Medien zum Zug.
Während also die Diskussion im Internet läuft, können die traditionellen Medien die Debatte aufgreifen, zusammenfassen, weiterverbreiten. Sie können kondensieren und den Menschen wiederum ermöglichen, im Internet oder auch in den Leserbriefspalten und vor allem auch durch interpersonale Kommunikation an der Diskussion teilzunehmen.
An Kurt Imhof: Eben dabei wird viel differenzierter als nur mit verallgemeinernder Opfer-Täter-Dichotomie diskutiert. Dass dies ab und zu AUCH vorkommt, lässt sich nicht vermeiden, klar. Ich selbst hatte aber stark den Eindruck, dass eben zahlreiche Facetten des Themas diskutiert wurden.
Ich kann mich nur manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass es eben von einigen als störend empfunden wird, dass nun alle etwas dazu sagen können, nicht nur diejenigen, die für sich selbst in Anspruch nehmen, alles richtig einordnen zu können. So wird also auch eine Diskussion um die Deutungshoheit daraus.
Das ist eigentlich schade, denn gerade an diesem Thema offenbaren sich die Kernkompetenzen von Social Media und klassischen Medien und die Art, wie diese sich wunderbar ergänzen könn(t)en.
Das sind ja richtige Kampfparolen, die ich hier lese. Bei manchen fröstelt es mich, offen gesagt, ein wenig.
Ich habe gar nichts gegen kämpferisch aufgebaute Positionen, im Gegenteil. Aber hier verkämpft man sich irgendwie:“….denn andere Qualifikationen als das Geschlecht und nichts als das Geschlecht gelten zur Zeit nicht….“
Den Satz habe ich @)Mara oben entwendet, hinter deren Pseudonym , wie ich annehme, eine Frau steht. Ich habe den gleichen Eindruck wie Mara.
Mann begehrt Frau, Frau begehrt Mann, Frau begehrt Frau, Mann begehrt Mann. So ist das Spiel der Natur. Dieses Naturgesetz kann man doch nicht einfach aushebeln wollen und dekretieren: Im beruflichen Umfeld gilt das dann aber nicht.
Die Frage ist: Wer stellt die Regeln auf. Das war über Jahrtausende der Mann, und das ging schief. Und jetzt stellen die Frauen die Regeln auf? Das wird ebenso schief gehen, weil dieses vertrackte Naturgesetz dazwischen steht. Und das bleibt da.
Es braucht, verflixt nochmal , beide. Wie der Twitter-Storm belegt, gibt es offenbar noch immer ein beträchtliches Kommunikationsproblem zwischen den Geschlechtern: Signale werden missverständlich ausgesendet, dementsprechend falsch verstanden und missverständlich zurückgesendet. Das betrifft beide Geschlechter gleichermassen. Ja, auch die Frauen.
@)Kurt Imhof (nein, keine Seniorenstammtisch-Solidarität @ Christof Moser) brachte das ziemlich spitz auf den Punkt.
Halloooo! Ein Kommunikationsproblem im Kommunikationszeitalter! Wenn das kein Medienthema ist.
Lieber Fred David
Wie lange muss man es wiederholen: Es geht in dieser Debatte nicht um Beziehungsanbahnung, sondern um Machtmissbrauch. Die meisten unter #Aufschrei geschilderten Erlebnisse handeln auch nicht von Missverständnissen, sondern sind sehr eindeutig sexistisch.
@) David: Ich habe den Aufschrei mal über die letzten 24 h gescheckt, hunderte von Einträgen. Ich fand ein einziges Beispiel von Sexismus. Ist ja auch schwer, auf 140 Zeichen sowas unterzubringen. Sonst ist das Meiste eher mühsam bis auf die Links, die sind oft ergiebig.
Twitter kann man nicht ernsthaft als Diskussionsbasis nehmen, auch wenn zehntausende Einträge weiter vorne viele solcher Beispiele berichtet wurden, von denen niemand weiss, was und wie genau – auf 140 Zeichen.
Aber es sind doch Hunderttausende, die da twittern! Ja. Das total-mentale Gegenstück zu dieser Debatte , „The Bachelor“, bringt es auf ein Millionenpublikum. Und? Was lehrt uns das?
Man kann auch bei Gelegenheit einen Twitter-Aufschrei zum Beispiel über Mobbing am Arbeitsplatz oder Aehnliches lancieren: zehntausende von Einträgen , aus dem Leben gegriffen, sind garantiert.
So eingleisig läuft die Sache eben nicht, und überhaupt nicht geht, dass da autoritär verfügt wird, um was es in dieser Debatte zu gehen hat und um was dänn öpe gar nöd. Wo sind wir denn!? Dieser autoritär-rigoristische Ton, der da rein kommt – ich meine jetzt nicht so sehr hier auf medienspiegel – fällt mir ohnehin auf.
Dass Sexismus ein wichtiges Thema ist, ist jetzt wohl fast allen klar, das ist erst mal positiv. Vielmehr allerdings bisher noch nicht wirklich. Twitter hilft da nun gar nicht weiter, abgesehen von den Links. Und als Fieberthermometer.
@ Fred David: Ich finde nicht, dass das Thema noch nicht vorangekommen ist. Wichtig ist erst einmal die Abgrenzung, was ist Sexismus, was Flirt, was Humor?
Gerade die Links zu Beiträgen in Twitter machen das ja aus – es verlangt ja niemand, eine solche Diskussion nur je mit 140 Zeichen zu führen ;-) Aber es sammelt halt die Fäden und dient – wie Sie präzise bemerkt haben – als Fieberthermometer.
Hier ein Beitrag mit Beispielen von Sexismus (durch die Medien):
http://www.taz.de/!110050/
Hier einige Links, denen ich entnehme, dass doch sehr stark differenziert wird:
http://katrinhilger.wordpress.com/2013/01/31/wir-frauen-sind-so-nein-sind-wir-nicht/
http://philippe-wampfler.com/2013/01/25/zwei-bemerkungen-zum-aufschrei/
http://kleinerdrei.org/2013/01/wo-kritik-am-aufschrei-fehl-geht-und-wo-nicht/
http://www.fraumeike.de/2013/das-schreien-der-laemmer/
Den von Bariton verlinkten NZZ-Artikel finde ich ebenso treffend (http://www.nzz.ch/aktuell/international/sexismus-debatten-in-deutschland-1.17967267) und ein gutes Beispiel für Einordnung durch ein klassisches Medium.
Zum Phänomen der Diskussion über Twitter lieferte Bugsierer weiter oben einen tollen Link zum Artikel von Sasha Lobo im Spiegel (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-soziale-medien-sind-die-digitale-strasse-a-880227.html)
Warum also kann Twitter nun nicht ernsthaft als Diskussionsbasis genommen werden? Woran machen Sie nun fest, dass noch nicht mehr passiert ist, als dass das Thema Sexismus auf die mediale Agenda gesetzt wurde (was aber an sich doch wirklich schon positiv ist)?
@Fred David
„Aber es sind doch Hunderttausende, die da twittern! Ja. Das total-mentale Gegenstück zu dieser Debatte , “The Bachelor”, bringt es auf ein Millionenpublikum. Und? Was lehrt uns das?“
Ich habe noch nie Bachelor geschaut, aber ich bezweifle, dass es ein Gegenstück ist. Gibt es beim Bachelor Machtmissbrauch? Ich denke, die Protagonistinnen machen da freiwillig mit und sind sich von Anfang an bewusst, worauf sie sich einlassen.
„Man kann auch bei Gelegenheit einen Twitter-Aufschrei zum Beispiel über Mobbing am Arbeitsplatz oder Aehnliches lancieren: zehntausende von Einträgen , aus dem Leben gegriffen, sind garantiert.“
Nein, das wird nicht funktionieren, weil kaum jemand den Eindruck hat, dieses Thema würde von den Medien verschwiegen und bräuchte jetzt endlich mal auf die öffentliche Agenda gesetzt werden. Aber, wenn du meinst, versuch’s doch mal. Wenn du mich eines Besseren belehren könntest, würde mich das genauso freuen.
„So eingleisig läuft die Sache eben nicht, und überhaupt nicht geht, dass da autoritär verfügt wird, um was es in dieser Debatte zu gehen hat und um was dänn öpe gar nöd. Wo sind wir denn!? Dieser autoritär-rigoristische Ton, der da rein kommt – ich meine jetzt nicht so sehr hier auf medienspiegel – fällt mir ohnehin auf.“
Naja, wenn du statt der letzten die ersten 24 Stunden des Hashtags #Aufschrei verfolgt hättest, wüsstest du, worum es bei #Aufschrei ging. Die #Aufschrei-Tweets handelten nicht von Brüderle und nicht von einvernehmlichen Flirts, sondern von Respektlosigkeiten, Grenzverletzungen und Übergriffen. Und sie kamen auch zahlreich von Frauen, die in Sachen Sex keinerlei Berührungsängste haben. Wenn nun die Herren Masüger, Imhof und David das auf ihre Weise uminterpretieren, dann muss ich sie einfach darauf aufmerksam machen, dass diese Interpretationen nicht zutreffen. Ich finde, man darf erwarten, dass einfach mal zugehört wird, bevor Kritik geäussert wird.
„Dass Sexismus ein wichtiges Thema ist, ist jetzt wohl fast allen klar, das ist erst mal positiv. Vielmehr allerdings bisher noch nicht wirklich. Twitter hilft da nun gar nicht weiter, abgesehen von den Links. Und als Fieberthermometer.“
Twitter hat offensichtlich vielen Frauen geholfen zu realisieren, dass sie nicht die einzigen sind mit solchen negativen Erfahrungen. Und viele Männer darauf aufmerksam gemacht, dass es auch in ihrer Umgebung viele Frauen gibt, die sich immer wieder von Männern belästigt fühlen und sich das nicht mehr länger bieten lassen wollen. So etwas kann eine Zeitung wohl nicht schaffen. Ausserdem hat der Aufschrei auf Twitter viele Menschen dazu angestiftet, ihre Erfahrungen und Gedanken ausführlich in Blogs niederzuschreiben. Rivva zählt immerhin 247 Blogposts zum Thema: http://search.rivva.de/?q=Aufschrei+%2Fblogs
Mir jedenfalls haben all diese Stimmen sehr weitergeholfen.
Pingback: Aufschrei – eine Medienschau | Warum alles auch ganz anders sein könnte.
#Aufschrei – erklärt in 28 Tweets und 3 Teilen:
http://ivinfo.wordpress.com/2013/02/02/aufschrei-erklart-in-28-tweets-1/
http://ivinfo.wordpress.com/2013/02/02/aufschrei-erklart-in-28-tweets-2/
http://ivinfo.wordpress.com/2013/02/02/aufschrei-erklart-in-28-tweets-3/
wenn Ihnen die tweets zu undifferenziert sind und Sie nicht die der ersten 24h lesen wollen, dann sollten Sie sich einmal die unzähligen Schilderungen auf http://alltagssexismus.de/ durchlesen.
Schade, hier hätten wir – immerhin unter dem Titel „Aufklärung“ – eigentlich eine interessante Debatte haben können. „Medienspiegel“ zielt auf Reflexion, nicht Betroffenheit & Befindlichkeiten & empörte Ausgrenzung. Dafür gibt es andere Formate.
hmmm… woraus lesen Sie aus meinem Kommentar Ausgrenzung?
mit dem link habe ich nur auf etwas tiefer gehendere Schilderungen hingewiesen – diese Schilderungen waren die ursprüngliche Absicht vom Hashtag. nicht mehr und nicht weniger wollte ich damit anführen.
Ansonsten wünsch ich noch viel Spaß
Wenn einer „Reflexion, nicht Betroffenheit & Befindlichkeiten & empörte Ausgrenzung“ fordert, macht er sich kenntlich als Teil der diskursiv Bösen, die Gefühle und Befindlichkeiten nicht unbesehen heilig sprechen und betroffen vor ihrer Twitter-Timeline niederknien, sondern – wie altmodisch – reflektieren. Das isch nöd guet, denn es ist so: Das Abnicken von Gefühlen und Befindlichkeiten ist der eigentliche Zweck der Diskussion, wärmendes Zusammenrücken im virtuellen Raum, laute Konsensfreuden derer, die sich denkerisch im Heute angekommen wähnen und definieren, welches Geschlecht und welche Generation moralisch und definitorisch das Sagen hat und im Notfall substanzlos herumfuchteln darf (Wer nimmt sich eigentlich der massenpsychologischen Überlegungen dazu an?).
Herr Imhof, wie viele Betroffene haben sich Ihnen anvertraut? Ein Drittel der Ihnen bekannten Frauen oder etwa weniger? Was, Sie sind nicht mit persönlichen Statistiken ausgelastet? Unverzeihlich. Sie können einfach nicht zuhören. Typisch Mann. Vom Mars.
Hier wird uns die neuste Methode zur Ermittlung von Wahrheit vorgeführt. Auf den Kompost mit den Errungenschaften eines neuzeitlichen Diskurs‘, der von Verhocktheit und Provinz wegführt.
„Auf der Strecke bleiben jene Frauen, die tatsächlich und echt unter sexueller Belästigung leiden, sich im Gegensatz zu einer «Stern»-Journalistin aber nicht wehren können. Deren Stimmen hört niemand, weil sie irgendwo als Putzfrau oder in einem anderen Job tätig sind, den niemanden interessiert. Sie werden vielleicht sogar Opfer einer solchen Welle, weil eine solche auch immer eine Gegenbewegung auslöst, der wiederum die Schwächsten ausgesetzt sind.“
@H.: Er meint nicht dich.
@Kurt Imhof: Das mit der interessanten Debatte ist halt schwierig, wenn die Wahrnehmung der Realität so extrem auseinander driftet.
– Für die einen ist das Thema Herrschaft in Form von Alltagssexismus, für die anderen handelt die Debatte von Flirts, Puritanismus oder Brüderle.
– Die einen sind begeistert davon, wie nun von unten eine Öffentlichkeit geschaffen und das öffentliche Bewusstsein verändert werden kann (egal, ob die redaktionellen Massenmedien diese Debatte aufnehmen oder nicht). Die anderen wollen diese Revolution nicht wahrhaben.
– Die einen haben ein Mittel gefunden, mit dem sie sich Gehör verschaffen können. Die anderen meinen, dafür bräuchte es immer noch redaktionelle Massenmedien.
– Für die einen ist klar, dass die redaktionellen Massenmedien die Deutungshoheit verloren haben. Die anderen meinen, sie hätten sie noch.
Und nun? Naja, leben wir halt weiter in zwei Welten. Meine Bereitschaft, mich mit eurer Welt zu beschäftigen, ist zugegebenermassen am schwinden.
Vielleicht ist diese erste Analyse von Antje Schrupp auch für andere noch hilfreich für die Aufklärung: http://antjeschrupp.com/2013/02/02/aufschrei-hat-gezeigt-wie-internet-geht/
Ja, ihr #aufschreienden wir haben euch gehört. Und ihr seid eine neue Öffentlichkeit. Verzeihung, eine neue Gegenöffentlichkeit. Und ihr seid wichtig. Sehr wichtig. Ganz unglaublich wichtig. Viel wichtiger als alle vor euch. Ihr werdet die altersschwachen, von Ignoranz und Sexismus zerfressenen Holzmedien dereinst beerdigen. Ganz bestimmt.
Was die Altherrenriege hier eigentlich sagen wollte, aber ihrer Bejahrtheit wegen wohl nicht so richtig konnte, übernimmt dankenswerter eine junge Kollegin (der Text erschien zuerst in The European.de, eine online-Zeitung, die mir in letzter Zeit öfters auffiel):
http://www.freiewelt.net/blog-4951/dann-mach-doch-die-bluse-zu!.html
Gut, das ist eine Diskussionsgrundlage. Meine Anmerkungen zum European/Freie-Welt-Text:
Birgit Kelle sagt: „Wenn wir also ein bestimmtes Verhalten nicht wollen, müssen wir es auch aussprechen. Müssen wir selbst die Grenze ziehen und diese deutlich machen.“
Genau das machte Frau Himmelreich laut ihrer Schilderung. Es wurde von Brüderle aber nicht respektiert. Genau das macht auch #Aufschrei. Die Aktion hat Frauen ermuntert, Grenzen zu ziehen und dies deutlich zu machen. Wieso Frau Kelle dies dann trotzdem kritisiert, erschliesst sich mir nicht.
Aber: #Aufschrei machte auch deutlich, dass bei vielen geschilderten Erlebnissen erstens ein Deutlich-Machen gar nichts nützt, weil Grenzen bewusst ignoriert und überschritten werden, und zweitens Frauen oft in einem Abhängigkeitsverhältnis mit Sexismus konfrontiert werden, so dass sie neben allfällig fehlendem Mut vor allem auch die Zukunftsaussichten davon abhalten, ihre Grenzen deutlich zu machen.
Weiter heisst es im Text: „Vier Studiums-Jahre als junge Kellnerin in der Gastronomie stählen für alle Lebenslagen. Es gibt diese Männer, die jede Frau, die nicht bei drei auf den Bäumen ist, als Freiwild betrachten. Als Einladung, wo gar keine ausgesprochen wurde. Es waren meine männlichen Kollegen, ja die männlichen, die mir damals unterstützend zur Seite standen. “
Die Frage ist: Wollen wir das? Wünschen wir für unsere Töchter, dass sie sich einen Schutzwall anlegen und Grenzverletzungen einfach so über sich ergehen lassen? Wollen wir, dass sich Frauen im Alltag mit Männer umgeben müssen, die sie beschützen? Birgit Kelle beantwortet diese Fragen offensichtlich mit Ja. Ich beantworte sie mit Nein.
Was mich auch stört an dem Text, ist, dass sie den Frauen, die sich bei #Aufschrei beteiligt haben, unterstellt, dass sie sich als „Opfer der Männer“ sehen. Mein Eindruck ist aber, dass sie sich nicht als „Opfer der Männer“ sehen, sondern als Opfer einer kleinen Gruppe von Männern.
Ansonsten hat Frau Kalle mit einigen Beispielen Recht, die aber der Berechtigung oder gar Notwendigkeit von #Aufschrei keinen Abbruch tun.
Ach ja, und was mich fast am meisten stört an dem Text, ist, dass sie die Opferperspektive umkehrt: Männer sind Opfer ihrer Triebe, die sie nicht im Griff haben, Opfer der Umstände, dass 13-Jährige mit Push-up-BHs zur Schule gehen, Opfer der Frauen, die ihre Reize strategisch einsetzen. Wie wenn wir Männer erst gerade von den Bäumen gestiegen wären. So ist es doch auch nicht, oder?
Pingback: Prüderie – eine Auslegeordnung | Warum alles auch ganz anders sein könnte.
@) David: Wir nähern uns dem Punkt: Der Twitter-Aufschrei ist ja ok, aber es ist eben alles spontan, nicht nachprüfbar, unreflektiert (auf 140 Zeichen geht das gar nicht anders), häufig schlicht diffamierend und Vieles ist augenscheinlich von wie blöd herumtwitternden pubertierenden Girlies zusammenphantasiert (nein, ich sage ja extra: nicht alles, aber Vieles; für diese Einschätzung hat mir der 24 h-Trip auf „Aufschrei“ ausgereicht).
Eben: Fieberthermometer haben ihre Funktion. Die ist durchaus wichtig, aber höchst begrenzt. Es geht nur nach oben oder unten.
Und da kommt dann die mir bislang unbekannte Journalistin Birgit Kelle und haut diesen Text hin, in dem journalistische Grundprinzipien ziemlich gut eingehalten werden (das jetzt nur als Beispiel, allerdings ein Herausragendes, für manche andere).
Ob das digital oder auf Holz geschrieben ist, ist in dem Zusammenhang völlig wurscht. Aber da ist ein Gesicht, das zu dem Text stehen muss, eine Adresse, wo ich sie allenfalls belangen , wo ich nachfragen, nachhaken kann, da ist ein The European, der diesen Disput auf erwachsene Art organisiert, und dem ich auf die Bude steigen kann, wenn ich glaube es müsste sein.
Eben: Nicht ein haltoses Gezwitscher im anonymen Nirwana ohne jede Verantwortlichkeit.
Und eins bitte nicht vergessen: Der Ausgangspunkt war ein Holzmedium namens „Stern“, das sich, nebenbei, bisher nie in Sachen Antisexismus (what ever it means) besonders profiliert hat. Bis heute kennen wir nur eine Seite der Darstellung, obwohl die Hinrichtung bereits passiert ist.
Und es sickert durch, dass die „Stern“-Redaktion die junge Journalistin noch ein ganzes Jahr nach dem Vorfall zur Berichterstattung in die Nähe des Herrn B. geschickt hat – bis man fand, es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für den Eklat. Sie nahm regelmässig z.B. am „Pressefrühstück“ teil, das Brüderle veranstaltet und wo es viele Gelegenheiten zu persönlichen Begegnungen am Rand gab. Google ist da eben gnadenlos beim Aufbewahren von Spuren…
Wenn ich jene Begegnung der Dritten Art, der meine Mitarbeiterin ausgesetzt gewesen war, als so skandalös empfunden hätte, hätte ich als „Stern“-Chefredaktor bez. Ressortleiter jemand andern zu solchen spezifischen Terminen geschickt. Es sei denn, ich hätte erwartet, da käme noch mehr.
Danke Fred David und Mara Meier. Nun versuche ich es auch noch mal mit einem Tanz im Minenfeld und entschuldige mich für die Länge.
Jeder Reflexionsversuch muss vor allen Dingen zuerst die Täter-Opfer-Dichotomien und ihre Umkehrungen ausklammern, denn diese hindern nur beim Denken. Sie sind so häufig, weil Täter-Opfer-Bestimmungen Vorteile haben. Sie sind a) unabdingbare Semantiken in der zeitlosen Auseinandersetzung um Deutungshoheit und Legitimation; b) sie fliegen einem denkfaul zu und erklären die Welt auf simple Weise; c) sie dienen der affektuellen Selbstbefriedigung, sichern Zuwendung und Aufmerksamkeit zu tiefen Opportunitätskosten und d) sie eignen sich gut zur Selbstinszenierung und für opportunistische Strategien.
Die wichtigsten Nachteile dieser Täter-Opfer-Bestimmungen sind die Verkleisterung des Denkens und des Diskurses, die Herabsetzung der Ausgrenzungsschranken (wer klar Täter ist, ist jenseits des Sozialen), und alle müssen auf die Opferseite drängen (oder sich zumindest mit den Opfern solidarisieren). Es kommt deshalb immer zum Statuswettbewerb des Opferdaseins (ein Statuswettbewerb, der in diesem verallgemeinerten Fall Brüderle noch besonders befeuert wird, weil der Opferstatus mit dem erstrebten Merkmal ‚Attraktivität‘ verknüpft ist).
Das klingt schrecklich zynisch, ist es aber nicht. Und es ist klar, dass wir letztlich nicht um solche Kategorien herumkommen, aber eben letztlich und nicht zuerst.
Aus der Erfahrung der Religionskriege, in welchen die Täter-Opfer-Dichotomie zum Gegensatz Christ – Antichrist gesteigert wurde, und einen Zustand hervorbrachte, in dem beide Parteien das moralisch Beste wollten, aber gemeinsam das moralisch Schrecklichste produzierten, bestand der Aufklärungsliberalismus auf die Universalitätsnorm. Kein Akteur (gleich welcher Herkunft), kein begründetes Argument und kein Thema dürfen prinzipiell dem Diskurs entzogen sein, und Argumente haben gegen Argumente anzutreten und gerade nicht gegen Personen oder gar Personengruppen.
Das ist nicht einfach, denn es bedeutet die Ausklammerung oder die aufwendige Tarnung subjektiver Affekte und Interessen und es verlangt die Kontrolle der eigenen Affekte. Es hat aber den Vorteil zu Perspektiven zu gelangen, die die Aufklärung als Vernunft definierte (und einen zivilisatorischen Fortschritt darstellt).
Wenn wir dies auch beim affektiv aufgeladenen Thema des Balzverhaltens zwischen Menschen zumindest versuchen und dieses Verhalten, wie dasjenige der Bonobos von aussen beobachten, dann können wir auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene des Sozialen einige Beobachtungen machen, die vielleicht weiterführen:
Mikroebene, also Balzinteraktionssituationen. Diese sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass sie in westlichen Gesellschaften normativ schwach geregelt sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, sie sind durch Unsicherheit geprägt, es gibt keine klarne Handlungsanleitungen, die erwartbar zu Handlungsverkettungen führen, wie etwa bei hochgeregelten Kaufhandlungen. Zweitens findet das Balzverhalten in aller Regel in einer ebenfalls normativ schwach geregelten Sphäre halbprivater Geselligkeit statt. Im Unterschied zum hoch formalisierten und affektkontrollierten öffentlichen Verhalten auf den Vorderbühnen unseres Lebens sind Handlungssituationen der Geselligkeit (alle sozialphobischen Menschen wissen das) durch den Wettbewerb der Selbstinszenierung und – auch ganz unabhängig von sexuellen Attrahierungen, durch die Norm, des „Sich-Näher-Kommens“ gekennzeichnet und gerade deshalb drogendurchsättigt. Wie schon die bürgerliche Geselligkeit des 19. Jahrhunderts muss auch unsere spätmoderne Geselligkeit in Bars, an Firmenfesten, Partys aller Art – gerade wegen der schwachen normativen Leitplanken bzw. der situationscharakteristischen Unsicherheit – in der Regel durch Alkohol geschmiert werden. Diese erleichtern die in sich widersprüchliche und deshalb schwierige ‚kontrollierte Enthemmung’ die der Geselligkeit eigen ist.
Weil wir also im Balzverhalten keine klaren Handlungsmodi haben, weil Situationen der Geselligkeit schwach normiert sind, weil der Wettbewerb persönlicher, zwischenmenschlicher Attraktivität hier am härtesten spielt und weil Drogen als Enthemmungsmittel eingesetzt werden, sind die Effekte der Handlungsverkettungen viel weniger erwartbar als in hochformalisierten Sozialkontexten. Deshalb wurde schon die bürgerliche Geselligkeit des 19. Jahrhunderts mit der post festum wirkenden Norm der Diskretion verknüpft. Normalerweise können wir uns deshalb darauf verlassen, dass das, was gestern Abend in die Hosen ging, heute bloss über Klatschkommunikation sanktioniert wird und von der Milde der ‚verminderten Zurechnungsfähigkeit’ profitiert. Kurz: Wenn etwas in die Hose geht, werden wir nicht gleich sozial demontiert. Damit diese Sphäre der Geselligkeit überhaupt möglich ist, ist die Norm der Diskretion Bedingung.
Wir können allerdings auch ohne diese moderne Geselligkeit auskommen: Es gibt soziale Einrichtungen, die die Risiken des Beziehungsentdeckungs- und -vertiefungsverfahrens ‚Geselligkeit’ minimieren: an formalen Kriterien orientierte Beziehungsverbote (das brachte uns immerhin Romeo und Julia) geschlechtergetrennte Geselligkeit, hochformalisierte Pseudogeselligkeit wie etwa ritualisierte Bälle an der Schwelle zum Erwachsenenalter, strikt religiöse Geselligkeit sowie Delegation der Beziehungsanbahnung bzw. -vertiefung jeglicher Art an Eltern, Priester, Stammesälteste oder auch die Substitution des Beziehungsentdeckungsverfahrens Geselligkeit durch kommerzielle Organisationen und Algorithmen. Prohibition mag auch noch von Vorteil sein.
Mesoebene: Damit sind wir aber schon auf der Mesoebene organisierter, also durch Organisationen gesteuerter Interaktionsanbahnung und -regulation und der Kommerzialisierung dieses Aktes durch Makler und Dienstleister aller Art. Deren gewaltiger Erfolg ist auf die geschilderten Risiken und Unwägbarkeiten der Geselligkeit in individualisierten Gesellschaften einerseits und der aus liberaler Perspektive normativ abgewerteten, traditionellen Formen der Beziehungsregulation zurückzuführen. Diesen Erfolg können wir unterstützen, wenn wir die Einsicht in die schwach regulierte Geselligkeit und die daran geknüpfte Norm der Diskretion aufgeben also den ohnehin schon risikoreichen Prozess kontrollierter Enthemmung durch harte Moralkodizes noch mehr verminen. Nun wäre auf dieser Mesoebene noch vieles interessant, aber ich lass es zu Gunsten der:
Makroebene, die uns hier interessiert, weil es sich um eine themenzentrierte Öffentlichkeit handelt, die ein Balzverhalten im Rahmen einer halbprivaten Bargeselligkeit, das in die Hosen ging, gesellschaftsweit zu einem Thema machte. Wenn Privates – jenseits von deliktischem, also durch positives Recht sanktionierten Verhaltens – öffentlich wird, haben wir es entweder mit Unterhaltung oder mit moralischen Skandalisierungen mit affektuell und interessengeleiteten Täter-Opfer-Zuordnungen zu tun (die natürlich auch unserer Unterhaltung dienen). Bei Prominenten ist es ein Geschäft mit einer Fülle von Trittbrettaufsprungschancen für Nicht-Prominente. Unter der Bedingung von Befindlichkeitsbekundungen und Empörungsentäusserungen mit äusserst niedrigen Opportunitätskosten entfalten sich sehr rasch Shitstorms (die gab es früher auch schon, wenn auch viel weniger auf Sexualität bezogen), die von der Interdependenz von Informationsmedien und Social Media (IM & SM) leben. Sie bieten Aufmerksamkeits-, Zuwendungs-, Anschlusskommunikations- und Selbstinszenierungschancen, dadurch werden hinter unserem Rücken neue Verhaltensnormierungen in die Gesellschaft eingezogen, die das Risiko kontrollierter Enthemmung in schwach regulierter halbprivater Geselligkeit sprunghaft erhöhen. Die Norm der Diskretion, die die Geselligkeit schützt, wird ausgehebelt, ein weiterer Bereich des Privaten erhält medialen Nachrichtenwert und die gesellige Interaktion unter Vertretern verschiedener Expertenkulturen jenseits ihrer formellen Rollen wird unwahrscheinlicher.
Worauf nun auch schon andere, oben etwa in dem von Fred David verlinkten Beitrag, hingewiesen haben, vollzieht sich dies im normativen Rahmen einer in Mittel- und Oberschichten auf körperliche Attraktivität getrimmten Individualität und in einer multimedial hochsexualisierten Kultur.
Vor allem in den durch Moralkodizes und Wettbewerbsdruck am meisten geprägten Mittelschichten ist deshalb in Geselligkeitssituationen ein seltsames Verhalten beobachtbar: Hochgetrimmte und betonte Körperlichkeit (Attrahierungswettbewerb) bei gleichzeitiger Unmöglichkeit eben diese Körperlichkeit – auch nur schon über Komplimente – zum Thema zu machen. Betonte Sexualität vermählt sich mit kommunikativer Verklemmung. Gleichsam Bonobos mit Berührungshemmung. Dies führt in einer Kultur moralisch und kommerziell durch Informations-, Unterhaltungs- und Social Media ausgebeuteten Privatheit zur bizarren Situation, dass wir etwa wissen, was Kachelmann mit Tampons auch noch macht, aber sexuelle Vorlieben auch in engsten Freundschaftsbeziehungen vorab in Mittelschichten Tabuthema sind. Dieses kommunikative Vakuum befeuert den Nachrichtenwert multimedialer Sexualitätsthematisierung ebenso wie die Empörungsbewirtschaftung durch Moralisierungswellen in denselben Medien. Private Verklemmung inmitten eines multimedialen Sodom und Gomorras mitsamt der Moral der Salzsäule oder eben: innerweltliche Askese.
@ Fred David
Sie haben sich ja sehr strikt an meine Vorraussagen gehalten:
«Ich kann auch schon sagen, was als Nächstes kommt: Aber mir hat eine Frau (10 Frauen, 100 Frauen) gesagt, dass sie das auch nicht schlimm findet/sich auch wehren kann/ihr das noch nie passiert ist ect.»
Quelle: http://www.medienspiegel.ch/archives/004840.html#comment-7403
Warum ich wusste dass das als nächstes kommen würde? Ich schreibe seit 3 Jahren einen Blog zum Thema Behinderung (u.a. deren Darstellung in den Medien); das Thema Diskriminierung ist mir daher geläufiger als (offensichtlicherweise) Ihnen und Kurt Imhof. Da dieser ganze Bezug zum sexuellen offenbar ihrer beider Wahrnehmunsgfähigkeit stark beeinträchtigt, erkläre ich das, was Birgit Kelle macht, kurz anhand eines Beispiels aus dem Themenbereich Behinderung:
Christian Wenk ist Arzt und seit 10 Jahren aufgrund eines Unfalls querschnittsgelähmt. Er war vor seinem Unfall sehr sportlich und ist es immer noch. In einem Interview in der BaZ erklärte er deshalb einmal folgendes: «Sogar in Neubauten werden viele unnötige Stufen und Schwellen eingebaut. Ich habe mich so arrangiert, dass ich gut funktionieren kann. Wenn mir eine Treppe im Weg steht, setzte ich mich auch mal auf den Hintern und ziehe den Rollstuhl nach.»
Birgit Kelle macht das selbe: Ich habe mich damit arrangiert, dass die Verhältnisse so sind.
Kelle wie Wenk finden es zwar auch nicht toll, dass sie im Job als Kellnerin betatscht werden oder eine Treppe auf dem Hintern bewältigen müssen, aber: Was noch viel schlimmer wäre: sich als Opfer sehen müssen. Dann wird ihnen nämlich vorgeworfen (Imhof macht das ja) sie seien nur darauf aus, sich als Opfer der Umstände darzustellen. Also: Zähne zusammenbeissen und bloss nicht meckern. Würde man das tun, würde man nämlich abgewertet: bei Wenk: Ach der Behinderte braucht eine Sonderbehandlung, tja, der ist eben behindert (ergo: NICHT gleichwertig, sprich: auch nicht gleichwertig kompetent). Ach, Frauen möchten NICHT betatscht werden; dann sollen sie doch zu Hause bleiben.
Sprich: Wer in der Welt, wie sie gesunde Männer gebaut haben, nicht zurecht kommt, ergo diese Normierung nicht akzeptiert, darf nicht mitspielen. Darum sagt Frau Kelle das, was sie tut. Darum sagt Wenk was er tut.
Sie machen übrigens das selbe hier in dieser Diskussion mit mir. Meine Argumentation wird nicht ernst genommen und als Betroffenheit und persönliche Befindlichkeit abgewertet. Natürlich ist meine Argumentation von meinem Erleben als Frau geprägt. Ihre Argumentation sind aber genau so von Ihrem Erleben als Mann geprägt. Das erkennen sie nur nicht, weil sie IHR Erleben als Mann als Norm sehen. Nicht als persönliches Empfinden.
@Imhof
Ich kann ihnen auch auf biologistischer Ebene erklären, was jetzt gerade passiert:
Bei der Partnerwahl bestimmen Frauen, mit wem sie sich paaren. Das können sie heute freier entscheiden, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr auf einen Mann angewiesen sind. Die jüngeren Männer erhöhen nun ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Partnermarkt, indem sie Frauen gegenüber respektvoll auftreten. Genug biologistisch erklärt?
Danke @Marie Baumann
Ich bin nicht auf einen Rollstuhl angewiesen, habe aber auch Mühe mit gewissen Türen, die zu gross oder zu schwer sind. Oder ich stehe in einer Damentoilette vor dem Spiegel und denke mir „kann nur ein Mann gebaut haben“. Zuwenig Licht.
Dann diese Sätze von Handwerkern, Helphotlines und im Alltag, wenn ich sage, etwas funktioniert nicht:
„Das kann nicht sein, dass das nicht funktioniert“
Und dass sogar mein Partner sich schämt, wenn ich bei sowas verbal ausraste.
Dieses ewige verleugnen meiner Wahrnehmung. Und zwar nur, weil ich eine Frau bin. Und sich arrangieren müssen und den Partner mitnehmen, wenn frau irgendwo hingeht, wo sie sonst nicht ernst genommen wird. z.B. im Spital oder auf dem Polizeiposten.
Und dann geht man irgendwo in Begleitung hin in einer Angelegenheit, die eihnem betrifft und ein Mann spricht meinen Partner in dieser Angelegenheit an, als wäre ich ein kleines Kind.
Und die machen das nicht bewusst und nicht in böser Absicht. Es zeigt aber auf, wie sehr in Köpfen noch verankert ist, dass der Mann das Mass aller Dinge ist und wie man immer noch mit einer absoluten Selbstverständlichkeit Frauen, Behinderte oder andere Nicht-der-Norm-des-weissen-westlichen-Mannes enstprechende Personen als Unmündige behandelt.
Diese Haltung gegenüber denjenigen, die nicht zum Kreis der erlauchten selbsternannten Krone der Schöpfung gehören zeigt sich nicht nur im verbalen Umgang mit ihnen, sondern eben auch in Grenzüberschreitungen.
Wenn eine Gesellschaft eine Gruppe als weniger wert betrachtet als die andere, dann darf das einzelne Mitglied der „wertvolleren“ Gruppe mit Mitgliedern der „unwerten“ Gruppe auch machen, was er will.
Hier sei das Beispiel der sich prostituierenden Drogenkonsumentinnen aufgezeigt. Damals als der Drogenstrich im Seefeld in den Medien kam, mit einer abwertenden Zuschaustellung der hilflosen Frauen, gab es einen wahren Tourismus von biederen Ehemännern, die mit ihren Familienautos, den Kindersitz noch hinten drin, in Seefeldquartier fuhren und die Frauen wie Wegwerfware behandelten. Sie taten das im Wissen, dass die Frauen bei einer Anzeige nicht ernst genommen würden, sondern selber wegen Drogenkonsum und illegaler Prostitution gebüsst würden.
Die doppelte Stigmatisierung Betroffener via Nichtgenormt sein und Opfer führt dazu, dass überhaupt die Möglichkeit besteht sie ihrer Selbstbestimmung zu berauben. Jener Teil der Gesellschaft, der als Massstab für das Normale gilt erhält damit eine Freiheit, Moral mit zwei Massstäben zu leben. Heterosexuelle Männer grapschen keine Männer an, aber es gilt als Kavaliersdelikt es bei Frauen zu machen.
Erst wenn die Gesellschaft aufhört diese wertenden Gruppenzuteilungen zu machen, dann wird sich auch das Verhalten ändern. Solange es als akzeptabel gilt, jene, die als weniger wertvolle Mitglieder der Gesellschaft gelten, auch abwertend oder respektlos zu behandeln und ihnen auch noch die Schuld dafür zu geben, dass es so ist, wird sich an den Verhältnissen nichts ändern.
Das ist Macht und die wird weder freiwillig noch ohne Murren abgegeben. Darum werden auch junge Männer, die sich in dieser Debatte auf die Seite der Betroffenen gestellt haben, als Verräter aus den eigenen Reihen dargestellt und entsprechend angegriffen @Imhof
Danke für eure ausführlichen Entgegnungen.
@Fred David:
„haltoses Gezwitscher im anonymen Nirwana ohne jede Verantwortlichkeit.“
Ich habe da sehr viele Äusserungen von nicht anonymen Twittererinnen gesehen. Viele auch in meiner eigenen Timeline, und diese Urheberinnen kenne ich schon recht gut. Wie man von @dailytalk weiss, hat man als Twitterer sehr wohl Verantwortung für seine Äusserungen. Diffamierungen habe ich keine gesehen, denn die Täter wurden immer anonymisiert. Die Aussagen waren so haltlos wie jede Zeugenaussage – den allermeisten attestiere ich eine hohe Glaubwürdigkeit.
Zur Rolle von Stern: Ja, selbst Himmelreich hat schon sexistische Texte im Stern veröffentlicht. Das kann und soll man kritisieren. Deine anderen Punkte sind für mich aber nicht treffend. Ich denke nicht, dass die Veröffentlichung dieses Textes einen „Skandal“ auslöst. Der Text ist keine Hinrichtung, sondern ein kritisches Porträt. Wenige Tage vor dem Brüderle-Text erschien im Spiegel ein ebenso kritischer Essay von Annett Meiritz über Sexismus in der Piratenpartei. Die Piratenpartei hat mit folgender Antwort souverän reagiert: http://berlin.piratenpartei.de/2013/01/21/antwort-an-annett-meiritz-eine-erklaerung/
Hätten die FDP und Brüderle ähnlich reagiert und einen Fehler eingestanden, wäre die Sache im Nu gegessen gewesen. Wenn hier jemand getötet wurde, dann war es Selbstmord durch Uneinsichtigkeit.
Himmelreich schildert die Situation rund um Brüderle als „nicht immer angenehm“. Ich denke nicht, dass das Grund genug ist, um sich versetzen zu lassen. Letztlich lautet deine Aussage: Erst wenn es unerträglich ist, ist es genug schlimm, um darüber zu schreiben. Ich finde, man sollte darüber schreiben, so lange die Situation noch erträglich ist.
@Kurt Imhof:
Es gibt ein öffentliches Interesse daran zu erfahren, was der Spitzenkandidat der FDP für eine Person ist, wie er mit Menschen in seiner Umgebung umgeht. Es muss Portraits über ihn geben dürfen, die seinen Charakter beschreiben, und wenn seine Herrenwitze, sein sexistisches und sein Trinkverhalten einen wichtigen Teil seines Charakters ausmachen, dann muss es möglich sein, darüber zu berichten. Es geht hier, so wie es Frau Himmelreich schildert, nicht um einen einmaligen Ausrutscher, sondern um einen Charakterzug.
Ob es hierbei um Täter und Opfer handelt, kann der Leser selber beurteilen. Himmelreich schildert bloss das Geschehen.
Wie auch immer man den Text im Stern beurteilt: Mit der Twitter-Aktion #Aufschrei hat das nichts, wirklich gar nichts zu tun. Dort schilderten Frauen ihre ganz persönlichen Alltagserfahrungen, bei denen ihre persönlichen Grenzen verletzt wurden. Dabei wurden keine Täter persönlich genannt. Auch handelte es sich in den wenigsten Fällen um Balzinteraktionssituationen. Die geschilderten Beobachtungen der Mikro-, der Meso- und der Makroebene treffen darauf also nicht zu. Ich rede von Tweets wie:
– Erdkundelehrer, die nur Mädchen hochheben, „damit sie besser etwas auf der Karte zeigen können“. Jungs bekommen den Zeigestock. #aufschrei
– »kollegen«, die weibliche praktikantinnen zu vorstellungsgesprächen einladen, obwohl es gar keine freien stellen gibt. #aufschrei
– Wenn dir beim Einsteigen in den Zug an den Po gefasst wird und sobald du dich umdrehst niemand mehr da ist… #aufschrei
– Typen in vollen Zügen, die sich mit dem gewissen Blick in den Augen so in den Weg stellen, damit man sich vorbeiquetschen muss #aufschrei
– „Ich dachte du willst ficken. Selber Schuld wenn man so geschminkt durch die Gegend läuft“ Typ bei der Haltestelle #Aufschrei
– Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag.
– Vom Vorgesetzten dem man seine beruflichen Ziele offenbart „Dazu müssen Sie sich aber mehr kurze Röcke zulegen.“ zu hören kriegen #aufschrei
– Der Kunde, der meinte, das ich ja ein „hübsches Ding“ wäre und schon wissen würde, was ich für seine Unterschrift machen müsse. #aufschrei
Ich kann wirklich beim besten Willen immer noch nicht verstehen, was es an solchen Tweets auszusetzen gibt.
Nachtrag @Fred David
Nach 24 Stunden auf Twitter entscheiden Sie als Mann, dass vieles dort «wild zusammenphantasiert» sei.
Es würde mich schon noch interessieren, woher Sie die Berechtigung nehmen, über etwas zu urteilen, was Sie selbst gar nicht kennen; nämlich wie es ist, eine Frau zu sein.
Und Sie, Frau Baumann, sind berechtigt zu sagen, „wie es ist, eine Frau zu sein“?
Sie können über die Selbstwahrnehmung des Individuums Marie Baumann berichten, über die subjektive Innensicht und Weltauffassung, eine objektive Aussage ist nicht möglich, geschweige denn über „die Frau“.
Sozialisation, Bildung, Milieu, Sprache, Kultur, Intelligenz, Talent, Charakter, Temperament, Körperlichkeit, Geschmack, Mentalität, Empfindungsstruktur, Haltungen, Werte, Interessen etc. etc. – das kann doch sehr auseinandergehen.
Gute Nacht!
Irgendwie schade, wenn man hier von Reflexion und Debatte spricht, aber sich weigert, die Kernaussagen der Debatten-„gegner“ ernst zu nehmen. Wie David und Brigitte Obrist doch sehr gut erklärt haben: Es geht eben NICHT um die etwas ungeschickten Flirtversuche. (Und ja, mein Partner hat mich ganz ohne die Gefahr einer Ohrfeige damals anflirten können – er verzichtete dafür aber auch darauf, schon bei der ersten Begegnung meine Brüste zu rühmen. Lustigerweise konnte er mir auch Komplimente machen, die nichts mit Geschlechtsmerkmalen zu tun hatten. Wenn ich höre, dass deutsche FDP-Politiker künftig nicht mehr mit Journalistinnen zusammenarbeiten wollen wegen der Brüderle-Sache, dann frage ich mich schon, ob es wirklich sooo schwierig ist, Kommentare über Brüste, Hintern und co. sein zu lassen?? Aber das alles nur am Rande).
Es geht eben um die Fälle, wo Machtmissbrauch stattfindet. Wie H. geschrieben hat, bei alltagssexismus.de gibts da genügend Beispiele. Solange die einen hier über Flirts und die anderen über Sexismus beispielsweise im Beruf diskutieren, reden alle schlicht aneinander vorbei.
Herr Imhof, ich lese bei anderen Themen sehr gerne von ihnen und schätze ihre Ansichten meistens sehr, hier aber, so denke ich, reden sie doch stark an ihren Debattengegnern vorbei – wenn sie auch behaupten, diese verunmöglichten eine Debatte. Bitte fühlen sie sich nicht angegriffen, aber es entsteht der Eindruck, sie selbst möchten lieber erklären als debattieren. Eine Debatte läuft eben auch zweiseitig. Interessant hier auch, wie wenig sie auf Beiträge von weiblichen Kommentatorinnen – ausser sie sind ihrer Meinung – eingehen, beispielsweise von Marie Baumann und Brigitte Obrist). Ich verstehe, dass sie die Auswirkungen dieser Debatte auf die Balzkultur ausführen wollen. Solche Auswirkungen, wie sie sie beschreiben, sind denkbar. Es wäre aber eben auch das Ergebnis einer im Grunde falsch verstandenen Diskussion. Nun wäre es aber schade, die Diskussion zu unterlassen, nur weil man sie falsch verstehen könnte (aber, hier, so gebe ich ihnen Recht, ist das Risiko natürlich grösser auf einem Medium wie Twitter mit 140 Zeichen.)
Meiner Ansicht nach ist die Sache doch folgende: Mit dem Twitter-#Aufschrei wollten viele Frauen vor allem eines erreichen: Den Alltagssexismus sichtbar machen (ja, das kann man sehen, wie man will. Nicht alle Tweets fallen in meine Definition von Sexismus, ich selber erlebe ihn auch nicht so häufig. Allerdings war es so möglich, zu sehen, wie andere Frauen darüber denken). Nun wurde vielerorts eine Diskussion darüber entbrannt, inwiefern die Wahrnehmung dieser Frauen berechtigt ist, ob man das Thema überhaupt diskutieren sollte, etc. Den Frauen wird sofort eine Opfer-Täter-Dichotomie unterstellt. Ich würde mal so ganz gerneralisierend behaupten, dass es doch vielen nur darum ging, zu sehen: Hey, anderen geht es auch so, ich bin vielleicht doch nicht die „humorlose Zicke“ und ich darf meine Grenzen zeigen. Dann kommen Frauen wie Birgit Kelle und sagen: „Zeigt doch eure Grenzen“. Dabei waren eben viele Frauen unsicher, ob sie nicht übertreiben. In diesem Sinne: Möglicherweise bewirkt die Diskussion eben, dass Frauen in Zukunft ihre Grenzen (wo immer denn diese auch liegen mögen) deutlicher benennen – damit ist doch beiden geholfen, Mann wie Frau. Der Diskussion einfach die Relevanz abzusprechen, oder sie als Zeichen einer übersexualisierten und doch verklemmten Gesellschaft zu bezeichnen, greift hier einfach zu kurz.
Und @ Mara Meier: Meiner Auffassung nach wollte Marie Baumann einfach aussagen, dass die Wahrnehmung der einzelnen Frauen eben nicht ernst genommen wird, obwohl es eben um das subjektive Empfinden geht. Sie wollte wohl nicht sagen: „Alle Frauen empfinden so“, sondern: Wenn es Frauen gibt, die so und so empfinden, wer hat das Recht, ihnen das abzusprechen?
@Fred David: Langsam verstehe ich ihren Punkt. Ich sehe es eigentlich ähnlich wie sie: Twitter alleine ist sehr ungefiltert, sehr ungeordnet und ja, auch nicht nachprüfbar (obwohl David hier richtigerweise bemerkt, dass eben viele auch mit ihrem Namen dazustehen und man auch bei einem Twitterer nachhaken kann). Das Gute aber ist, dass es eben Diskussionen anstösst, die sich in einordnenden Medien (ob digital oder auf Holz) weiterentwickelt. Eine Diskussion alleine auf Twitter wäre wohl sehr unergiebig. Das wichtigste Ziel, die Debatte ins Rollen zu bringen, wurde aber erreicht. In diesem Sinne haben die Social Networks meiner Meinung nach die Möglichkeiten der öffentlichen Diskussion erweitert, nicht aber übernommen oder erobert.
@David, Marie Baumann und Brigitte Obrist: Danke für die guten Diskussionsbeiträge.
Lieber Journi-Nachwuchs
Mir geht es bei Ihnen auch so und das ist klärungswürdig:
1. Existenz von Alltagssexismus: Es kann m.E. hier nicht darum gehen sich wechselseitig zu bestätigen, dass es Alltagssexismus gibt. Natürlich gibt es das. Menschen werden alltäglich typisiert auf der Basis erwerbbarer und nicht-erwerbbarer Merkmale, sie werden gemäss diesen Merkmalen diskriminiert oder bevorzugt und bei diesen Typisierungen spielen das Geschlecht, jedoch auch Herkunftsstatus, Schichtstatus und Berufsstatus die zentralsten Rollen. Das wissen wir alle bereits und weil wir das alle bereits wissen, ist es nicht interessant.
2. Mangelnde Beachtung von Postings: Wie alltäglich Sexismus in diesem Betroffenheits- und Bekenntnismodus ist, zeigen viel zu viele Postings, die im Eifer der Empörung verfasst, selbst in die Sexismusfalle tappen und erstaunlicherweise auch noch über biologistische Argumentationen sexistisch argumentieren. Auf solche Postings reagiere ich in der Tat nicht, weil sie gedankenlos das betreiben, was sie bekämpfen.
3. Vom Nutzen der wechselseitigen Bestätigung subjektiven Empfindens: Natürlich gibt es diesen Nutzen, alle Gespräche über subjektive Innerlichkeit, die wir führen, dienen uns der wechselseitigen Bestätigung oder der Korrektur unserer Empfindungsinterpretationen gegenüber beliebigen Phänomen. Das Faktum, dass wir das so viel machen, zeigt aber auch die Varianz unserer Empfindungen und die Unsicherheiten die wir gegenüber diesen Empfindungshorizonten haben. Gefühle und Emotionen kann man nicht in gleicher Art wie Sachverhalte oder Normen vor sich nehmen und sie sezieren. Zu unseren je eigenen Befindlichkeiten haben nur wir selbst einen privilegierten Zugang. Das verunmöglicht eine Debatte über Empfindungen ausserhalb von engen Loyalitätsbeziehungen. Nur die wechselseitige intime Kenntnis von Personen erlaubt eine wechselseitige, aber auch meist nur kurz anhaltende Versicherung von Gefühlen. Die Bestätigungssucht in Liebesbeziehungen zeigt diese Besonderheit des Emotionalen. Das bedeutet schlicht: Wir können uns jenseits enger Loyalitätsbeziehungen nicht mit Aussicht auf Erfolg wechselseitig Gefühle bestätigen. Wenn wir das tun, behandeln wir Emotionen wie Tatsachen einer objektiven Welt von Ursache-Wirkungsbeziehungen oder wie Normen der sozialen Welt. Kurz: Empfindungen können nur in der Sphäre des Privaten und Intimen aussichtsreich zum Thema werden. Darauf hat Mara Meier hingewiesen, die zu Recht auf die Unsinnigkeit verweist, die gröbsten aller Alltagstypisierungen, die blosse Geschlechtszuordnung als Geltungsbasis gemeinsamer Gefühlshorizonte zu machen.
4. D.h. wenn wir mit Aussicht auf Erfolg und nicht nur billiger wechselseitiger Bestätigung von Empfindungen über dieses Thema reflektieren wollen, dann müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit die zahllosen Bös- und Gutartigkeiten privater Interaktionssituationen öffentliches Thema werden sollen und was wir dabei bezahlen, wenn wir dies tun. Das ist das journalistisch relevante Thema und hier ist der Ort solches zu debattieren. Dazu gehört auch die Relevanzfrage von aufschrei, die Fred David hartnäckig stellt. Diese Frage ist berechtigt wegen den niedrigen Opportunitätskosten der Beteiligung, wegen der Bindung von Alltagssexismus an Attraktivität und der dadurch entstehenden Wettbewerbssituation in der Partizipation (frau muss es auch erlebt haben; es handelt sich hier um den Fischerlatein-Effekt) und wegen den zahllosen unsinnigen und gegenläufigen Tweets. Aufschrei hat viel Ähnlichkeit mit der Gutenberg-Fanpage auf Facebook, d.h. zahlreiche Anti-Gutenber-Statments & dem üblichen Unsinn und trotzdem wurde die Relevanz immer mit der schieren Zahl der Gutenberg-Fans belegt. Das war ebenso falsch, wurde aber durch die enthusiastischen – also bauchstalinistischen – Gutenberg-Fans eifrig ins Gefecht geführt. Genauso hier. Beide Phänomene werden durch einen schlecht recherchierenden Journalismus einerseits und Emotionen andererseits der Analyse entzogen. Wir werden noch viele solche Storms erleben – ich versuchte zu erklären warum – und wir werden wieder zahllose Akteure entdecken können, die sich deshalb unkritisch damit auseinandersetzen, weil es ihren Interessen dient oder weil sie emotionale Dividenden erhalten oder beides. Und es werden Themen darunter sein, die uns gar nicht gefallen werden. Empfindungen sind keine zweckmässige zivilisatorische Basis für Auseinandersetzungen. Deshalb lohnt sich die Debatte. Vielleicht sind wir und der Journalismus das nächste Mal klüger.
@ Kurt Imhof
Obwohl wir Sie mehrmals darauf aufmerksam gemacht haben, dass es bei #Aufschrei nicht einfach um Typisierung auf der Basis erwerbbarer und nicht-erwerbbarer Merkmale, sondern um grobe Respektlosigkeiten und Übergriffe geht (siehe Tweet-Auswahl), ignorieren Sie dies einfach und tun so, als ob es hier bloss um Lappalien ginge, die man so oder anders empfinden könne, und sie erst als Grenzverletzungen wahrgenommen würden, weil die Menschen sich gegenseitig in dieser Wahrnehmung bestätigen.
Dann sind Sie doch bitte so konsequent und sagen Sie auch einer vergewaltigten Frau ins Gesicht: Dass das eine Vergewaltigung war, ist bloss dein subjektives Empfinden, deine unreflektierte Emotion, die keine zweckmässige zivilisatorische Basis für Auseinandersetzungen ist.
Für das, was Sie hier betreiben, gibt es einen Begriff: Rape Culture. http://de.wikipedia.org/wiki/Rape_Culture
Vorab: Ist wieder etwas lange geraten, ich bitte um Entschuldigung.
Herr Imhof, danke für die Ausführungen, hier meine Antworten:
1. Obwohl Diskriminierungen an der Tagesordnung sind, lohnt sich meiner Meinung nach eine Thematisierung trotzdem. Das vielgenannte Problem des Alltagssexismus (ich beziehe mich hier auf die Anfangsdiskussionen des Themas) ist, dass er salonfähig geworden ist. Ein Beispiel: Der Chef macht eine Bemerkung über den Zusammenhang von Kompetenz und weiblichen Attributen bei einer Mitarbeiterin. Alle lachen, die Mitarbeiterin wird rot und schämt sich. Möglicherweise hat er das nicht böse oder abwertend gemeint – für ihn war es ein Witz. Für die Mitarbeiter auch. Möglicherweise bringt es aber eine sexistische Weltanschauung zum Ausdruck. Und wiederum könnte es auch einfach nur so bei der Mitarbeiterin angekommen sein. Wird nun der Sexismus thematisiert, kann sich der Chef fragen: Setze ich unbewusst meine weiblichen Angestellten herab? Mache ich das aus einem Grund oder fand ich das einfach lustig? Soll ich das ansprechen? Soll ich es lassen? Die Mitarbeiter denken: Findet unsere Kollegin das demütigend? Sollen wir sie etwas unterstützen? Sollen wir es ansprechen? Die Mitarbeiterin denkt sich: Übertreibe ich? Soll ich es ansprechen?
Ebenso wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen Balzverhalten und Machtausübung. Diese vermisse ich bei ihnen noch etwas. Die Grenzen sind sehr schwierig auszumachen: Im Gegensatz zur Belästigung an sich ist hier für mich vor allem die Intention des „Machtausübenden“ wichtig. Manchmal aber scheint es auch klar, etwa dann, wenn ein Vorgesetzter einer Angestellten vor allen Mitarbeitern zwischen die Beine fasst (das kam irgendwo in einem NDR-Beitrag glaube ich, weiss aber nicht mehr genau, wo). Das Beispiel ist bereits im Bereich der sexuellen Belästigung, hier sind sich ja alle einig, dass das nicht mehr ok ist. Es ist aber nur so gewählt, damit der Gedanke dabei klar wird.
Hier hilft die Thematisierung vor allem auch, einer Verharmlosung und somit einem „Wegschauen“ entgegen zu wirken.
Die Diskussion muss keine Revolution bewegen. Sie kann aber einen Anstoss geben, eigene Handlungen (dabei schliesse ich die Frauen ein, und ja, ich denke, Sexismus existiert durchaus in beide Richtungen) zu überdenken und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Bei Fällen von offenbarem Machtmissbrauch kann es Opfern helfen, Gehör zu finden, Täter aber zumindest sozial zu sanktionieren. (Opfer, Täter hier bewusst nicht definiert).
2. Danke für die Begründung.
3. Ich denke, auch über emotionale und sehr subjektive Themen kann man fruchtbar diskutieren. Sie schreiben: „Natürlich gibt es diesen Nutzen, alle Gespräche über subjektive Innerlichkeit, die wir führen, dienen uns der wechselseitigen Bestätigung oder der Korrektur unserer Empfindungsinterpretationen gegenüber beliebigen Phänomen. “ Ich finde diesen Nutzen nicht unerheblich. Es muss nicht das Ziel sein, die eigenen Empfindungen bestätigen zu lassen und im Zuge dessen zur ultimativen Tatsache zu ernennen. Es leistet allerdings einen Beitrag zur Verbesserung der Kommunikation. Beispielsweise schreibt Frau A in Twitter: Ich hasse es, beglotzt zu werden. Frau B antwortet: Ich hasse das auch. Frau C: Also schauen tut doch noch nicht weh – ich würde das niemandem verbieten. Und manchmal provoziert man es doch. Und Mann D: Ja, was denn nun? Bin ich ein Schwerverbrecher, wenn mein Blick mal in ein Dekollte wandert? Eine mögliche Erkenntnis für Frau A: Dass Glotzen mich stört, ist nicht für alle logisch. Also muss ich das kommunizieren, wenn ich mich belästigt fühle.
4. Sie schreiben: „dann müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit die zahllosen Bös- und Gutartigkeiten privater Interaktionssituationen öffentliches Thema werden sollen und was wir dabei bezahlen, wenn wir dies tun.“ Bei der Frage sind wir uns durchaus einig. Bei der Antwort allerdings nicht. Die Relevanzfrage – das sehe ich nun auch langsam ein – ist berechtigt. Aber Relevanz an sich ist halt ein schwieriges Thema. Wer entscheidet, ob etwas relevant ist? An den zahlreichen guten Beiträgen auf Blogs und in anderen Medien wie Fernsehen und Zeitungen würde ich schliessen, dass eine gewisse Relevanz durchaus gegeben ist. Grundsätzlich ist aber tatsächlich interessant, wie Storms zustande kommen und wie berechtigt sie sind. Sexismus ist übrigens nicht unbedingt an Attraktivität gekoppelt – habe einige Beispiele gelesen, wo Frauen darauf hinwiesen, dass sie Alltagssexismus erleben, aber sich selber nicht als attraktiv einschätzen würden. (Es gab auch Fälle à la „du dicke Kuh kriegst ja eh nie einen Mann ab“).
Ich bin mit ihnen uneinig, dass Empfindungen keine Basis für Auseinandersetzungen sind. Die Diskussionen sind heikler und schwieriger. Aber es gibt eben Themen, wo Objektivität nicht möglich ist. Die Themen auszuklammern, kann aber auch keine Lösung sein. Wie mans am Besten angeht – dafür habe ich auch kein Rezept.
Ich danke Ihnen, Herr Imhof, für den ausführlichen Beitrag. Er hat mir geholfen, besser zu verstehen, um was es ihnen denn nun geht. (Oder zumindest denke ich, ich habe es nun verstanden) Ich respektiere ihre Meinung – gleichwohl habe ich in manchen Punkten eine Andere.
Ich muss zur Verdeutlichung nochmal etwas anfügen. Ich bin in meinem Jugendverband in der Prävention sexueller Ausbeutung bei Kindern und Jugendlichen engagiert. Ein zentrales und unbestrittenes Ziel dabei ist, den Kindern die folgenden 7 Präventionspunkte der Fachstelle Limita zu vermitteln: http://www.limita-zh.ch/wb/media/Downloads_(PDF)/7-Punkte_Praevention.pdf
Was Kurt Imhof macht, ist das pure Gegenteil davon.
@Kurt Imhof
Danke für diese Erklärung. Jetzt habe ich (eventuell? vielleicht? ein bisschen?) verstanden, worum es Ihnen geht.
Trotzdem klingt Ihre Argumentation – stark verkürzt – ein bisschen so, wie jene der Gegner des Antirassismus-Gesetzes, die darin den Untergang aller gemütlichen Stammtischrunden sahen: «Jetzt werden wir selbst im Privaten nichts mehr ungehemmt sagen können, bloss weil ein paar «Gspürige» so überempfindlich tun».
Wenn ich mich richtig erinnere, halten Sie aber das Antirassismusgesetz (das ja eigentlich nichts anderes als die Verletzung persönlicher Gefühle strafbar macht) nicht für eine allzuschlechte Sache? Warum diese unterschiedliche Bewertung? Einmal persönliche Gefühle dort (als Grundlage eines Gesetzes) = gut, einmal persönliche Gefühle hier als Grundlage einer Diskussion = nicht objektiv = untauglich?
Hierzu habe ich eine Frage: Sie schreiben: «frau muss es auch erlebt haben» Würden Sie auch behaupten, jemand jüdischen Glaubens, der Erlebnisse mit Antisemitismus schildert, tue dies nur, um seine jüdischen Identität zu bekräftigen? Ich bin erst «richtig» jüdisch, wenn ich auch Antisemitismus erlebt habe?
hochinteressanter kommentar thread. grats an alle diskutanten.
apropos twitter ein spannendes detail am rande: die rhein zeitung hat gerade die top tweets der letzten 2500 tage ermittelt (so lange erst gibt es twitter). verantwortlich für das ranking war Digitalchef Marcus Schwarze. 1. platz: das erste foto vom im hudson river notgelandeten jet, das war vor 4 jahren. 2. platz: #aufschrei. (!) 3. platz: die umarmung von barack obama mit michelle obama direkt nach seiner wiederwahl (four more years). mehr dazu hier:
http://storify.com/larswienand/die-top-tweets
@Journi-Nachwuchs:
Einverstanden. Diskriminierung muss benannt werden, das gehört zum politischen Handeln. Aber bezüglich Diskriminierung besteht hier im ganzen thread kein Dissens. Es bringt Erkenntnisfortschritt, wenn wird dies uns hier wechselseitig bestätigen. Diejenigen, die verlorenen Geschlechterrollen nachhängen – die die Mittelschicht ohnehin aus ökonomischen Gründen nicht mehr realisieren kann – zählen nicht zum Publikum, die finden sich in anderen Foren. Hier geht es um die Folgen & Nebenfolgen & Relevanz des Issue Public Alltagssexismus in SM und IM und darüber hinaus um die Interdependenzen von SM & IM generell also um eine Öffentlichkeitsdebatte. Nun können solche Öffentlichkeitsdebatten nicht vernünftig geführt werden, wenn wir die unterschiedliche Normdichte von Öffentlichkeit und Privatheit und die Grenze dazwischen nicht berücksichtigen. Es macht für unsere Gesellschaft etwas aus, ob wir bestimmte Verhaltensweisen, wie hier Alltagssexismus (also strikt jenseits von Nötigung und Übergriffen) zum Offizialdelikt erheben und die subjektive Empfindung zum Massstab von Sanktionen machen, oder ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, die unterschiedliche Wahrnehmungen, Missverständnisse, Vulgaritäten und Grobheiten im Modus direkter Interaktion klären & sanktionieren. Ersteres geht aus rechtsstaatlichen Prinzipien nicht. Aber es würde sich – und das ist wichtiger – auch um eine rechtsförmige Kolonialisierung privater Lebenswelten und damit um Freiheitsverluste handeln, wenn wir dies realisieren würden. Ausserdem hebeln wir dann die Höflichkeitsnorm der Diskretion aus, die halbprivate Geselligkeit schützt.
Im Berufsleben wurde das gemacht, sexual harassment ist in allen Unternehmen sanktionsträchtig. Die Effekte sind zwiespältig, das Missbrauchspotential bei Konflikten beliebigen Typs ist enorm, die Empfindungsdifferenzen nicht nur zwischen Menschen, sondern bei denselben Menschen in unterschiedlichen Handlungssituationen ist gewaltig, die Definitionen von relevanten Fällen sind schwammig, und wir haben es zumeist mit Aussage gegen Aussage zu tun.
Es ist unmöglich, sich eine soziale Ordnung vorzustellen, die alle Konflikte zwischen Menschen offizialisiert. Es wäre eine schreckliche Gesellschaft, weil sie ihre Subjekte jeglicher Selbständigkeit berauben würde. Hinsichtlich ihres Einwandes bezüglich der Machtfrage kann einfach argumentiert werden: Es handelt sich dann nicht mehr um Alltagssexismus, sondern um Diskriminierung, und das ist sanktionsfähig.
Hinsichtlich Ihrer Einschätzung, Alltagssexismus habe sich intensiviert, bin ich radikal anderer Ansicht. Die Vorsichtsmassnahmen und teilweise absurden Umgangsformen, die etwa an Universitäten seit den 1990er Jahren beachtet werden müssen, um ja nicht Gefahr zu laufen, des sexual harassments bezichtigt zu werden, behindern die Alltagsinteraktionen und sind vor allem dann schlicht menschenfeindlich, wenn innere Nöte gross sind, denn Diskretion kann schon räumlich nicht mehr gesichert werden.
Ich spreche nicht gegen den Austausch von Empfindungen an, ich sage nur, was der soziale Ort ist, wo das authentisch gemacht werden kann. Alltagssexualität und Alltagssexismus werden völlig unterschiedlich bewertet und ist wie vieles von der Bildungsschicht und dem sozioökonomischen Status abhängig. Je niedriger die Bildungsstatus, desto sexualisierter ist die Sprache bei beiden Geschlechtern. Das bedeutet, je nachhaltiger die Bildungssozialisation, desto grösser ist die Affektkontrolle, also meine Bonobos mit Berührungsängsten.
@Maria Baumann:
Sie haben mich missverstanden, ich dachte der Hinweis auf den Fischerlatein-Effekt genüge: Jeder Fischer will den grössten Fisch gefangen haben, weil dies den Status des Fischers ausmacht. Anmache korreliert nicht nur aber doch auch mit anerkannten Attraktivitätsmerkmalen, die ein strenges Regime über uns, aber stärker über Frauen entfalten. Das Hetero-Paarungsverhalten ist hochsignifikant an das Attrahierungsmerkmal Sozialstatus bei Männern bzw. an das Attrahierungsmerkmal Jünger (und schöner) bei Frauen geknüpft. (Weil Status mit Alter korreliert sind die Männer in Beziehungskisten in aller Regel älter). Weil nun diese interne Verbindung zwischen Anmache und Attraktivität allen klar ist, ist die Nichtexistenz von negativen Anmacherfahrungen kein attraktives Thema bei solchen Kettenkommunikationen: Fischerlatein-Effekt.
@Maria Baumann und Journi-Nachwuchs:
Gute Bemerkungen bezüglich der Bedeutung von Empfindungen für das Politische. Antirassismusartikel ist auch ein schwieriges Beispiel. Es ist klar, dass wir politische Wesen, also als Bürgerinnen und Bürger, Ungerechtigkeiten und Friktionen der sozialen Ordnung, (die nochmals für politische Wesen differieren) zunächst emotional erleben. Diese Emotionalität ist sehr stark sozialisationsabhängig.
Als Bürgerinnen und Bürger in Demokratien müssen wir jedoch aufzeigen a) was die soziale Ordnung stört, d.h. wir müssen Ursache-Wirkungseffekte aufzeigen und b) diese Ursache-Wirkungseffekte anhand allgemein anerkannter Normen hinsichtlich ihrer Ungerechtigkeit oder Dysfunktionalität bewerten, wir müssen uns c) darüber Gedanken machen, wie wir die Ungerechtigkeiten und Friktionen der sozialen Ordnung vernünftig regulieren und ob d) die Form der Regulation nicht grössere Ungerechtigkeiten und Friktionen schafft, als wenn wir nichts machen würden. Schliesslich müssen wir e) Mehrheiten finden. Bei der Minarettinitiative, bei der eben bloss die Emotionen zu Gevatter standen, wurde weder a noch b noch c noch d beachtet, e wurde trotzdem erzielt. Und wenn wir die medienvermittelte Auseinandersetzung zu diesem Thema beachten, dann war das diesbezüglich alles andere als ein Highlight des politischen Räsonnements im Rechtsstaat Schweiz.
Beim Antrassismusartikel (der den Stammtisch schützt), den ich in der Tat immer unterstützt habe, liegen die Dinge nicht so einfach, aber ich mache es kurz und konjugiere nicht das a, b, c, d durch: Er zieht Kommunikations- und Handlungsverbote ein und tangiert die Meinungsäusserungsfreiheit. Dieser schwerwiegende Makel ergab sich politisch aus der Einsicht einer prinzipiellen Würde des Menschen, dann dass Rassismus das Tor zur Barbarei öffnet und schliesslich dass er Mehrheiten finden kann.
Die Zivilisation ist eine dünne Firnis, darunter brodelt die Hölle. Ein starker Grund, warum wir das öffentliche Räsonnement keinesfalls auf Empfindungen eindampfen dürfen und auch ein starker Grund, dass wir auf die Qualität der öffentlichen Kommunikation achten.
Der WeWo-Groove, dem sich hier, ich glaube der Chef der CH-Piraten David Herzog glaubt hingeben zu müssen, gehört nicht dazu.
In einem Punkt bin ich mit dem geschätzten Kurt Imhof nicht ganz einverstanden: «Alltagssexualität und Alltagssexismus werden völlig unterschiedlich bewertet.» Ich glaube, so gross sind die Unterschiede doch nicht. Es gibt bestimmte Verhaltensweisen, die in allen sozialen Schichten und in allen Branchen als Zumutung empfunden werden, hier besteht eindeutig ein schichtübergreifender Konsens.
Um die Diskussion wieder zum in diesem Blog zentralen Aspekt der medialen Vermittlung zurück zu bringen: Ich finde es intellektuell erbärmlich, wenn Internet-Apostel wie bugsierer und David Herzog die Debatte um #aufschrei zu einer New-Media vs Holzmedien-Debatte umzubiegen versuchen. So nach dem Motto: #aufschrei zeige, dass die Diskussion um gesellschaftliche Normen nicht mehr auf die professionellen Medien angewiesen sei. Das ist doch purer Unsinn. Wer so argumentiert, verkennt die elementaren Eigenschaften der «alten» und der «sozialen» Medien. Ein #aufschrei über Twitter ist doch nicht das Gleiche wie ein Zeitungsartikel. Die Medien haben die Aufgabe, individuelle Äusserungen auf ihren Richtigkeitsgehalt abzuklopfen und in verdaubarer Form zu vermitteln. Beides kann ein Medium wie Twitter nicht leisten und wird es nie können. Insofern ist es schäbig und entlarvend, wenn bugsierer und Herzog versuchen, die «Holzmedien» als überflüssig darzustellen anhand von #aufschrei.
PS: Ich möchte beliebt machen, die Diskussionsbeiträge kürzer zu halten. Die langen Kommentare, die sich hier jagen, kann kaum jemand verdauen.
intellektuell erbärmlich? internet-apostel? wo habe ich eine debatte umzubiegen versucht? ich habe nur einen link gepostet. und du, bobby california, saugst dir an meiner stelle stinkfrech eine interpretation dazu aus deinem netzphobischen hirn, die du mir gleich im nächsten satz fix um die ohren haust, als seien das meine eigenen aussagen. am ende bin ich auch noch schäbig und du behauptest zum xten mal, ich würde holzmedien jeden tag als überflüssig darstellen. das alles nimmst du dir heraus, nur weil ich einen link gepostet habe.
wie niederträchtig, hilflos und verlogen ist das denn? wie paranoid ist es, jahrelang auf zwei drei onlinern herumzuhacken und je nach aktuellem thema noch auf ein paar anderen? wie professionell ist das?
nach all diesen haarsträubenden verleumdungen machst du auch noch beliebt, die beiträge hier kürzer zu halten. supi. sonst noch wünsche?
@Kurt Imhof: Sie geben ein klares Programm vor, das ich mal kurz andenken möchte.
a) Störung der sozialen Ordnung; Ursache-Wirkungseffekte aufzeigen:
Ursache: Alltagssexismus, Wirkung: Rückzug und Verstummen vieler Frauen, gläserne Decke, Erkrankungen.
b) Bewertung: allgemein anerkannt wäre die Norm, dass Geschlecht und/oder körperliche Erscheinung keinen Einfluss auf Karriere, Lohn, Lebenszufriedenheit, Beziehungsfähigkeit etc. haben sollte – dem widerspricht a)
c) vernünftig regulieren: Alltagssexismus aufzeigen, klare Verhaltensregeln formulieren (knapp: Übergriffe vermeiden; Übergriff = was jemand als Übergriff empfindet), Lohntransparenz, Quoten zur Korrektur von Diskriminierung
d) hier ist die Frage: bei wem entstehen die Friktionen? Wenn Privilegierte ein Problem damit haben, dass ihre Privilegien infrage gestellt werden, halte ich das für nicht besonders problematisch. Ich wage zu sagen, dass die Ungerechtigkeiten durch c) sicher nicht größer werden.
e) Das wird vorerst nicht gelingen.
Damit hätten wir – so denke ich – den umgekehrten Fall der Minarettinitiative: Keine Mehrheiten für ein vernünftiges Anliegen.
@Kurt Imhof:
Hat denn irgendjemand gefordert, sexual harassment zu einem Offizialdelikt zu machen? Wir haben ungeschriebene Regeln des Anstandes und des Respekts. Verstösse brauchen nicht reguliert und durch irgendeine Stelle sanktioniert zu werden. Es genügt, dass sie von einer grossen Mehrheit der Gesellschaft als Verstösse wahrgenommen und verabscheut werden. Die wenigsten Menschen wollen als ein Arschloch oder Grüsel gelten und werden ihr Verhalten deshalb entsprechend anpassen. Es geht bei #Aufschrei bloss um Bewusstwerdung von a und b Ihrer Aufzählung. Stufen c bis e waren gar kein Thema.
Auch kann ich nicht erkennen, wo und durch wen in dieser Debatte die Diskretion halbprivater Geselligkeit gebrochen wurde. Daher argumentieren Sie meines Erachtens ins Leere hinaus.
Anscheinend gibt es für Sie bloss Lappalien und Offizialdelikte. Etwas dazwischen scheint es für Sie nicht zu geben. Meines Erachtens ist der Alltagssexismus, wie er in #Aufschrei thematisiert wurde, aber genau dazwischen: Ein sehr ernst zu nehmendes Thema, mit dem wir kompetent umzugehen lernen müssen. So wie z.B. auch das Thema Mobbing.
„Ich spreche nicht gegen den Austausch von Empfindungen an, ich sage nur, was der soziale Ort ist, wo das authentisch gemacht werden kann.“
Offensichtlich wird Twitter von einer grossen Anzahl Menschen als der soziale Ort gesehen, wo authentisch Empfindungen ausgetauscht werden können, sofern die handelnden Personen ausreichend anonymisiert werden. Ich sehe noch immer nicht, was daran ein Problem sein soll. Bis jetzt wurden dagegen eigentlich nur Strohmann-Argumente vorgebracht.
(Und nein, ich bekleide bei der Piratenpartei kein Amt, ausser auf Lokalebene.)
„Die wenigsten Menschen wollen als ein Arschloch oder Grüsel gelten und werden ihr Verhalten deshalb entsprechend anpassen.“
Die wenigsten Menschen. Gemeint sind: Männer.
Ein anderer Ansatz:
Die Aufschrei-Kampagne als virtuell präritualisierende Arschloch- und Grüsel-Bannformel 2013. Kollektiv laizistisches Ersatzgebet auf Twitter, anstelle der Fürbitte für Frieden in der Welt, gegen das Böse, der tausendfache Schrei für Eindeutigkeit, das gemeinsame Bekenntnis, das Leben möge uns vor unerwünschten Übergriffen, vor Arschlöchern, vor Grüseln, vor Machtmissbrauch, vor Gemeinheit, Gewalt, vor Unbill aller Art bewahren. Vor Leid.
Bitte, Mensch, werde eindeutig, werde gut, werde lieb, werde sanft, werde anders, werde zivilisiert! Bitte!
Wolle nichts, denn mein Wohl!
Sehnsüchte. Utopien.
***
„Und ja, mein Partner hat mich ganz ohne die Gefahr einer Ohrfeige damals anflirten können – er verzichtete dafür aber auch darauf, schon bei der ersten Begegnung meine Brüste zu rühmen.“
Interessant, dass hier ungerühmte Brüste argumentativ ins Feld geführt werden.
Man stelle sich in Zeiten des Gegenrechts vor, ein Kommentator hätte geschrieben:
„Und ja, meine Partnerin hat mich ganz ohne Gefahr einer Ohrfeige damals anflirten können – sie verzichtete auch darauf, schon bei der ersten Begegnung meine Beule in der Hose zu rühmen.“
„Arschloch“ oder „Grüsel“? Das wäre hier dann die einzige Frage.
ras. hat uns heute angemahnt, dass die 10 Tage IM & SM-Hype vorbei seien. Stimmt. Die Halbwertzeiten der Skandalisierungen sinken bereits schon seit einiger Zeit drastisch. Wir drohen hier also zu vereinsamen, während die Karawane weiterzieht.
Jedoch: So sicher wie das Amen in der Kirche wird diese Empörungswelle, die erst durch den Anmache-Bericht über Brüderle im Stern ihren jump start erhielt, weitere kleinere Anschlusswellen produzieren. Berichte aus Geselligkeitsinteraktionen haben ihren Nachrichtenwert bewiesen, sie verkaufen sich. Zurück bleibt das Nachdenken über solche Phänomene, die nicht in erster Linie als einzelne, sondern in ihrer repetitiven Logik, die Privatheit öffentlich machen, normativ durchwirken, die Moralhaushalte und Verhaltensrepertoirs der Menschen mainstreamen und damit die Vielfalt der Erscheinungsformen des Privaten einebnen. Das Thema Öffentlichkeit und Privatheit wird uns weiter verfolgen, während beide Sphären zunehmend verschwimmen und wir alle verlieren.
Andreas Gossweiler hat uns angemahnt kürzer zu werden und ja: Ich zähle zu den Hauptsündern. Wobei technische bedingte mildernde Umstände ins Feld zu führen sind. Neue Beiträge könnten kürzer gehalten werden, wenn zu einzelnen Postings direkt Entgegnungen angefügt werden könnten. Mit zunehmender Beitragsdichte des threats insgesamt müssen Antworten auf Einwände halt immer aneinander gereiht werden und man muss erst noch die Kontexte wieder aufnehmen. Darauf verzichte ich jetzt.
Damit zu Andreas Gossweilers Einwand. In dieser Alltagssexismusdebatte habe ich (wie es auch das Thema ist) explizit die strafrechtlich relevanten Formen ausgeklammert. Diesseits des Strafrechts finden sich äussert vielfältige Umgangsformen in pluralen, geschichteten und vielfach segmentierten Gesellschaften, die keineswegs einheitlich beurteilt bzw. moralisch verdammt werden.
Dies ist auch Philippe Wampfler klar, der genau dieses Problem mit einem fatalen Eingriff in die Rechtsordnung lösen will: Übergriff ist etwas, was jemand als Übergriff empfindet. Das bezieht sich selbstverständlich nach dem herrschenden Moraldogma auf Frauen, vgl. hierzu Mara Meier. Der einen Hälfte des Himmels, würde damit eine unschlagbare soziale Waffen in die Hand gegeben, die die andere Hälfte des Himmels auch in einen Missbrauchsdiskurs auf der Basis subjektiven Empfindens zwingen würde. Dieses Empfinden lässt sich nicht beweisen, deshalb sieht das positive Recht davon ab. Wenn dies nicht der Fall wäre hätten wir bauchstalinistische Willkür und dies würde die Konfliktdynamiken in Alltagssozialbeziehungen förmlich explodieren lassen, die Privatheit rechtsförmig verminen und über offizialisierte Konflikte aushebeln. Kurz: der Wille Gerechtigkeit herzustellen würde Willkür an deren Stelle setzen.
Na dann probieren wir das mit den „direkt Entgegnungen“ doch einmal. Sollte eigentlich per sofort funktionieren.
q.e.d.
Merci!
„Das Thema Öffentlichkeit und Privatheit wird uns weiter verfolgen, während beide Sphären zunehmend verschwimmen und wir alle verlieren.“
Dass das Private politisch ist, ist keine neue Errungenschaft. Marie verglich es in einem Tweet mit der „Wir haben abgetrieben“-Kampagne, die uns glaub auch nicht geschadet hat. Dass das ganze Privatleben veröffentlicht wird, ist eine neuere Erscheinung, hat aber mit #Aufschrei und Brüderle nichts zu tun. Ich sehe daher den Zusammenhang nicht.
Mit »Verhaltensregeln formulieren« meine ich keinen Eingriff in die Rechtsordnung. Die Verhinderung von Übergriffen lässt sich nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln sicherstellen, gerade weil Übergriff subjektiv definiert werden muss. Es handelt sich vielmehr um ein Prinzip der Vernunft: Ich will keine Übergriffe erleiden, also vermeide ich sie bei anderen. Hat so auch mit dem Geschlecht nichts zu tun. Ich hasse beispielsweise nichts mehr, als im Bus angefasst zu werden von anderen Menschen. Deshalb will ich nicht das Anfassen in öffentlichen Verkehrsmitteln verbieten, aber halte es für sinnvoll, dass alle Menschen einmal darüber nachdenken, was andere dabei empfinden, wenn sie tun, was sie tun. Gerade bei »Flirten« der Regulierung von Sexualität passieren uns Handlungen, die andere als Übergriffe empfinden. Das kann man einfach mal so hinnehmen und versuchen zu vermeiden. Den Rechtsstaat braucht es dazu meiner Meinung nach nicht.
(Gestern habe ich eine Vorlesung zum »Böckenförde-Diktum« gehört, wahrscheinlich geht es um was Ähnliches. Da muss ich aber erst mal drüber nachdenken…)
Das Böckenförde-Prinzip besteht aus der zutiefst aufklärungsliberalen Perspektive, dass der säkulare Staat von sozialmoralischen oder ethischen Beständen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (dasselbe kann man von der Marktwirtschaft sagen).
Dies bedeutet, dass soziale Ordnungen durch a) politische Regulation und durch b) Marktregulation ohne Rechtfertigung nicht auskommen und dass sich diese Legitimation aus ethischen Beständen speist, die in der Zivilgesellschaft durch Lernprozesse im öffentlichen Räsonnement entstehen und über Sozialisationsinstanzen wie Schule, Kirchen, Familien und – zunehmend die wichtigste ‚Sozialisationsagentur’ – die öffentliche Kommunikation an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Deshalb besteht die öffentliche Kommunikation in demokratischen Gesellschaften aus beständigen Problematisierungen der sozialen Ordnung im Wettbewerb um Resonanz und Anerkennung.
Dadurch – und da hat Philippe Wampfler recht – muss man/frau sich auf den Vorderbühnen des Lebens (u.a. im öffentlichen Bus) stets so verhalten, dass es zum ‚Kantschen’ allgemeinen Prinzip werden könnte. Auf unseren Hinterbühnen, also in den Gemeinschaften in denen wir uns bewegen, können und sollen eigenständige Privatmoralbestände die Geselligkeit – selbstverständlich innerhalb der Grenzen positiven Rechts, das für die Gesellschaft insgesamt gilt – regulieren. Das gilt für religiöse Gemeinschaften, Freundschaftsnetzwerke, Familien, Milieus, Lebensstilgruppen und gar Stammtische etc.
Nun droht jedoch der liberalen Gesellschaft dann Gefahr, wenn moralische Prinzipien, die innerhalb bestimmter Gemeinschaften ausserordentlich hohe Geltung geniessen, a) zum allgemeinen Prinzip erhoben werden und b) auch noch die Sphäre privater Gemeinschaftlichkeit durchdringen sollen. Unter a) sind aktuell etwa religiöse moralische Gebote in Diskussion (im allgemeinsten Sinne die Kopftuchdebatte) und unter a und b (nur als Beispiel die Abtreibungsdebatte). Solche Auseinandersetzungen sind dadurch geprägt, dass eine gemeinschaftliche Binnenmoral zum gesellschaftlich anerkannten und rechtsförmig sanktionierten Prinzip erhoben werden soll, die auch die Binnenmoralbestände jeglicher privater Gemeinschaftlichkeit durchdringen soll. Diese Auseinandersetzungen sind systematisch durch das Gute versus das Böse geprägt, sie erhalten ihre moralische Sprengkraft durch Täter-Opfer-Relationen. Das sprengt die liberale Gesellschaft und überfordert den Rechtsstaat.
Interessant ist nun, dass in den beständigen Problematisierungen der sozialen Ordnung im Wettbewerb um Resonanz und Anerkennung ausgerechnet diejenigen Problematisierungen oben aufschwingen, die durch Gut versus Böse & Täter versus Opfer geprägt sind. Diese Konfliktstilisierung erhält – insbesondere im kommerzialisierten Mediensystem – die höchste Aufmerksamkeit. So zehren etwa alle identitätspolitischen Auseinandersetzungen, auch die Ausschaffungsinitiative, vom Gegensatz eines imaginierten guten Volkes und bösen, nicht zugehörigen Fremden. Und ich weiss, ich setze mich mit der nun kommenden Analogie gurgelnder Empörung aus: genauso funktionierte der #aufschrei.
Oben hat sich nun Philippe Wampfler von dieser Dichotomie emanzipiert und argumentiert im besten Sinne universalistisch. Das Problem, das wir alle haben ist nur, dass dieser Typus der Argumentation keine Chance hat die Resonanz- und Aufmerksamkeitswerte von Moraldebatten des Typs Gut versus Böse & Täter versus Opfer auch nur annährend zu erreichen. Und das hat mit einer Öffentlichkeit zu tun, die die Empörung gegen das imaginierte Böse honoriert und universalistische Argumentationen durch Resonanzverlust straft. Dies unterminiert die universalistische Ethik des Aufklärungsliberalismus. Ein kommerzialisiertes Mediensystem und ein Journalismus ohne Professionalitätsethiken entkoppeln sich zusammen mit politischen Akteuren, die Aufmerksamkeitschancen optimieren, von der universalistischen Ethik des Aufklärungsliberalismus. Das heisst, sie zerstören damit jene Ethik, die die Voraussetzung ihres Bestehens ist.
Bin tatsächlich auch eine Hauptsünderin mit den langen Beiträgen. Ich weiss, das ist mühsam, sich da durchzukämpfen. Direkte Entgegnungen wie von Kurt Imhof vorgeschlagen wären da tatsächlich hilfreich. Und das Thema ist halt auch kompliziert.
Nur zwei Dinge:
– Meiner Meinung nach ist der Trumpf der Debatte immer noch die Sensibilisierung – keinesfalls die Generalknechtung von Männern oder die Einebnung von Vielfalt. Bewusstsein soll geschaffen werden, eine neue Grundlage für Kommunikation geboten. (Fieberthermometer/Aufmerksamkeitsmesser: Twitter, ausführliche Diskussion: Klassische Medien, Foren, Blogs, Alltag. ) Dazu braucht es keine neuen Rechtsgrundlagen. Wie David geschrieben hat: Es geht mehr darum, bei offensichtlichen Übergriffen, als Gesellschaft hinzusehen. Dazu braucht es aber keine strafrechtliche Verfolgung.
-@ Mara Meier: Verstehe ihren Einwand nicht ganz. Das Gegenrecht spreche ich doch niemandem ab. Auch Männer schätzen vielleicht einen Flirt ohne einen (für sie möglicherweise unangenehmen) Hinweis auf ihren Penis. Ich wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass ich das Argument „das ist doch nur ein harmloser Flirt“ nicht nachvollziehen kann. Ein Flirter/eine Flirterin, der/die sich auch Erfolgschancen ausrechnet, hat doch viel mehr Möglichkeiten, als sofort Geschlechtsmerkmale zu rühmen.
Kollege ras., it goes on and on (s. Zitat im obigen Kommentar von Kurt Imhof)….wie wärs‘ mit einem Glas Bienenhonig?
http://www.facebook.com/photo.php?fbid=10151238764886927&set=a.387396646926.176822.327602816926&type=1&theater
PS: Nochmals @ Mara Meier: Nach kurzer Überlegung meine ich zu wissen, was der Anstoss für meinen Satz war: Die Ohrfeige. Ich würde natürlich niemanden für ein Kompliment (wenn es auch in meinen Augen unpassend wäre) ohrfeigen. Bin ja gegen Gewalt. Spielte eher auf das Argument an, dass Männer ja künftig Angst hätten, beim Flirten gesteinigt (oder eben geohrfeigt, beschimpft, was immer) zu werden ;-)
@ Fred David: Haha, mit sowas hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Solche Auswüchse sind wohl immer noch etwas der Hitze des Gefechts geschuldet. Hoffe durchaus auch, dass sich die Wogen glätten, aber auch, dass das Bewusstsein für Übergriffe dennoch geschärft bleibt.
@) Journi-Nachwuchs: Sorry, ich fand das bei so viel Ernst einfach witzig zwischendurch. An Schmunzeln nach Gebrauchsanweisung habe ich mich noch nicht ganz gewöhnt. Aber ich bemühe mich.
Übrigens schätze ich Ihre Beiträge. Sie dürfen Ihr Pseudonym ruhig lüften; es wird Ihrer Karriere nicht schaden. Im Gegenteil.
Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich fand das ja auch witzig. Da sieht man wieder die Grenzen der schriftlichen Kommunikation, wenn man die Gesichtszüge nicht sieht ;-)
Danke für das Kompliment. Ich bin halt sehr vorsichtig, was Spuren im Internet angeht. Ich bemühe mich dafür aber auch, immer korrekt zu bleiben. Es ist nicht richtig, wenn Anonymität zu Respektlosigkeit verleitet.
Zum Abschluss noch eine unaufgeregte Zusammenstellung von FaQs zum Thema, von Anne Wizorek der Urheberin des #Aufschrei-Hashtags:
http://kleinerdrei.org/2013/02/was-ihr-schon-immer-uber-aufschrei-wissen-wolltet-und-bisher-auch-zu-fragen-wagtet-ein-faq-versuch/
Weil ich macnhmal das Gefühl hatte, wir reden nicht vom selben (Flirtversuch vs. Sexismus)
Nichtsdestotrotz Danke an alle hier für die in vieler Hinsicht lehrreiche und horizonterweiternde Diskussion.
Mein Fazit zu der ganzen Diskussion hier: Jeder hat seine eigene Agenda, ist dann verstimmt, wenn die öffentliche Debatte dieser nicht folgt, und biegt sich deshalb die Geschichte so zurecht, dass es in sein althergebrachtes Schema und Urteil passt. Schade.
@Fred David: ;-)) Zum Honig ein bisschen rassigen Pfeffer von @Mara Meier
Ihr Wunsch, mein Befehl. Abermals. Heute, 11:33 bereits den Griffel fallenlassen: Kurt Imhof hatte Ihre Abmahnung zitiert (11:32). Fertig Hype.
Pfeffer. Lampong, Borneo, Sarawak?
Oder eine Entscheidungshilfe für die Strumpfband-Füllung unter dem Dirndl?
http://www.youtube.com/watch?v=VU4bLH2vXdI
Super. Ich nehme das Schreckschussding, allein schon wegen dem Mae-West-Spruch: „Tragen Sie eine Pistole oder freuen Sie sich nur mich zu sehen?“
Mit Mae West haben Sie sich gedacht: „Wenn ich zwischen zwei Übeln entscheiden muss, wähle ich das, das ich noch nicht ausprobiert habe.“
Zauberhaft. Steht Ihnen.
@alle – Wo bleibt die Aufklärung? Wo bleibt die Aufklärung! – Sie hat sich definitiv satt und dumm und stumm gebummst, in den Betten des Kapitalismus. Das zeigt diese Debatte! Sie ist zu den Klerikern unter die Decke geschlüpft und schäkert mit jungen, philosophierenden Investmentbankern am Tresen. Anything goes!
Es geht nur um eine Frage: Warum kam die Geschichte jetzt auf den Tisch? Und dazu gibt es nur eine Antwort: Politisches Kalkül. Dabei geht es mir nicht um Brüderle, sondern um den Mechanismus, der hier am wirken war.
Dieser Mechanismus muss Mittelpunkt der Diskussion sein. Dieser Mechanismus und: wie dieser Mechanismus über Social Media tausendfach aufgeladen werden kann.
Und noch zum Meta-Thema: Das Thema Sexismus ist ein Thema, bleibt ein Thema solange es uns Männer und Frauen gibt. Frauen werden diskriminiert. Ja! Aber Frauen bitte realisiert endlich: Männer werden auch diskriminiert. Klein gemacht. Geschunden. Wer nur ein kleines bisschen die Geschichte dieses Erdballs verfolgt weiss: Menschen, die gedemütigt werden, werden meistens selber zu Tätern. Wer geschlagen wird, schlägt den nächst Schwächeren.
Während wir hier diskutieren, Zeit und Energie einsetzen für ein Thema, welches jede und jeder von uns – so nehme ich das aus den Texten wahr – auf irgend eine Art in ihrem/seinem täglichen Leben ernst nimmt, geht eine Elite ungestört ihrem Geschäft nach: Teile und herrsche! Und ich füge hinzu: Teile, säe Zwietracht und herrsche!
Unter dem Nenner: Man kann am Artikel Masügers dieses oder jenes herumkritteln. Stilistisch, geschmäklerisch. Inhaltlich trifft er: Auf der Strecke bleiben die Menschen, die wirklich Hilfe nötig haben!
Auch wenn es nicht viel zur Sache tut:
Wenn man bei der Bildersuche auf google.de „Journalistin“ eingibt, kommt an neunter Stelle Rainer Brüderle.
Hab ich was verpasst?