Einfach mal so herausgefragt: Ist es eigentlich üblich, dass Journalisten ein Interview mit einem Promi «vorspiegeln», obwohl sie vermutlich nur an einer Art Pressekonferenz teilgenommen haben?
Zur Illustration hier das erste Dutzend Fragen aus den ganzseitigen Usain-Bolt-«Interviews» der «NZZ» und des «Tages-Anzeigers» vom Montag, 27. August 2012. Das «Interview» in der «NZZ» wurde von Remo Geisser, jenes im «Tages-Anzeiger» von Christian Brüngger geführt:
[NZZ] Mister Bolt, stellen Sie sich vor, Sie wären ein Sprinttrainer. Was müssten Ihre Athleten tun, damit sie Usain Bolt besiegen können?
[Tages-Anzeiger] Erklären Sie Ihren verzweifelten Gegnern: Wie sind Sie zu bezwingen?[NZZ] An Grossanlässen ist es noch schwieriger als sonst, Sie zu schlagen. Hat das damit zu tun, dass Sie dann besonders motiviert sind?
[Tages-Anzeiger] An grossen Meisterschaften scheint es unmöglich, Sie zu schlagen. Motivieren Sie solche Titelkämpfe besonders?[NZZ] Spürten Sie das schon als Kind, dass Sie besonders schnell sind?
[Tages-Anzeiger] Wussten Sie schon als Kind, dass Sie schnell sind?[NZZ] War da eine besondere Leichtigkeit?
[Tages-Anzeiger] Waren Sie sich Ihres Talents von klein auf bewusst?[NZZ] Träumten Sie davon, der schnellste Mann der Welt zu sein?
[Tages-Anzeiger] Träumten Sie davon, einmal der schnellste Mann der Welt zu werden?[NZZ] Nun sind Sie erwachsen und sehr, sehr schnell. Was empfinden Sie, wenn Sie über die Bahn fliegen?
[Tages-Anzeiger] Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute mit Maximalgeschwindigkeit über die Bahn fliegen?[NZZ] Spüren Sie während eines Laufes, ob Sie schnell oder superschnell sind?
[Tages-Anzeiger] Wissen Sie während eines Wettkampfs sofort, wenn Sie auf Weltrekordtempo sind?[NZZ] Ist es ein anderes Gefühl, wenn Sie laufen, als wenn Sie einen Ferrari fahren?
[Tages-Anzeiger] Fühlt sich Sprinten mit Maximalgeschwindigkeit wie das Rasen in einem Rennauto an?[NZZ] Was ist das bessere Gefühl?
[Tages-Anzeiger] Der Höchstspeed in einem Sportwagen fühlt sich besser an als beim Sprinten?[NZZ] Nach Ihrem 100-Meter-Sieg in London sagten Sie, das Publikum sei ein wichtiger Faktor. Können Sie das etwas genauer beschreiben?
[Tages-Anzeiger] In London sagten Sie, wie wichtig das Publikum für Sie sei. Können Sie das ausführen?[NZZ] Ist das ein Teil Ihrer Vorbereitung: Sie putschen das Publikum auf, und es treibt Sie zu guten Leistungen an?
[Tages-Anzeiger] Sie spielen mit dem Publikum, um daraus Kraft zu generieren?[NZZ] Je grösser das Stadion ist, desto besser sind Sie?
[Tages-Anzeiger] Sind Sie in grossen Stadien leistungsfähiger als in kleinen?etc. etc.
Wie muss man sich das genau vorstellen? Wird da im Chor gefragt?
[NZZ] Mister Bolt, stellen Sie sich vor, Sie wären ein Sprinttrainer. Was müssten Ihre Athleten tun, damit sie Usain Bolt besiegen können?
– Bolt: Gute Frage.
[Tages-Anzeiger] Erklären Sie Ihren verzweifelten Gegnern: Wie sind Sie zu bezwingen?
– Bolt: Schwierige Frage.
[NZZ] An Grossanlässen ist es noch schwieriger als sonst, Sie zu schlagen. Hat das damit zu tun, dass Sie dann besonders motiviert sind?
– Bolt: Ja.
[Tages-Anzeiger] An grossen Meisterschaften scheint es unmöglich, Sie zu schlagen. Motivieren Sie solche Titelkämpfe besonders?
– Bolt: Tatsächlich.
[NZZ] Spürten Sie das schon als Kind, dass Sie besonders schnell sind?
– Bolt: Total.
[Tages-Anzeiger] Wussten Sie schon als Kind, dass Sie schnell sind?
– Bolt: Ja, ja.
[NZZ] War da eine besondere Leichtigkeit?
– Bolt: Voll.
[Tages-Anzeiger] Waren Sie sich Ihres Talents von klein auf bewusst?
– Bolt: Klar.
[NZZ] Träumten Sie davon, der schnellste Mann der Welt zu sein?
– Bolt: Nein.
[Tages-Anzeiger] Träumten Sie davon, einmal der schnellste Mann der Welt zu werden?
– Bolt: Nie.
[NZZ] Nun sind Sie erwachsen und sehr, sehr schnell. Was empfinden Sie, wenn Sie über die Bahn fliegen?
– Bolt: Wow!
[Tages-Anzeiger] Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute mit Maximalgeschwindigkeit über die Bahn fliegen?
– Bolt: Cool.
[NZZ] Spüren Sie während eines Laufes, ob Sie schnell oder superschnell sind?
– Bolt: Klar.
[Tages-Anzeiger] Wissen Sie während eines Wettkampfs sofort, wenn Sie auf Weltrekordtempo sind?
– Bolt: Logisch.
Der Titel ist falsch. Richtig ist vielmehr: „Ein Interview, keine Journalisten“. Wahlweise auch: „Zwei Journalisten, kein Interview“. Möglich ist auch:“Keine Journalisten, kein Interview“. Und überhaupt!
tsss… man glaubt es nicht: nicht einfach zwei sog. qualitätstitel, sondern die beiden flaggschiffe der deutschschweizer printszene schummeln solchen schmonzens zusammen. ein jammer.
Sie stellen sich bezüglich des Bolt-Interviews Fragen, die Sie auch mir hätten stellen können. Das Setting war so: Weltklasse Zürich bezahlt Bolt 300’000 Dollar und bekommt dafür neben der sportlichen Leistung noch 120 Minuten Präsenzzeit bei Medien, Sponsoren etc. In dieser Zeit sind allfällige Fahrten inbegriffen. Die Organisatoren haben sich entschieden, eine halbe Stunde der Zeit grossen Schweizer Medien zur Verfügung zu stellen: 10 Minuten fürs Fernsehen, 5 Minuten fürs Radio, 15 Minuten für „Tages-Anzeiger“, „Blick“ und „NZZ“. Die Zeiten konnten dann mit Einverstädnis von Bolt und seinem Management leicht überzogen werden. Wir drei Redaktoren haben das Interview gemeinsam vorbereitet und dann bestimmt, dass einer den Lead übernimmt, damit das Gespräch einen Fluss hat. Einer stellte also die meisten Fragen, die anderen haben nachgehakt, ergänzt etc. Das Interview hat am Ende exakt 20 Minuten gedauert, und es hat für diese kurze Zeit einiges hergegeben. Das war also keine Pressekonferenz, sondern ein Interview in kleiner Runde. Der Leser wird nicht betrogen, wie Sie vielleicht vermuten, sondern er bekommt 1:1 den Inhalt des Gesprächs. Natürlich hätte jeder von uns das Interview gerne exklusiv gehabt, aber das ist bei Bolt für ein Medium unserer Grösse und Reichweite nicht mehr möglich – nicht einmal, wenn man nach Jamaica reist. Ich war letztes Jahr dort, konnte Bolt beim Training zusehen und in einer grösseren Gruppe die eine oder andere Frage stellen. So bizarr das tönt: Ein Setting, wie wir es in Lausanne mit Bolt hatten, ist schon fast ein Glücksfall. Am Ende sollte für mich als Journalist vor allem die Frage stehen: Erfährt der Leser hier etwas mehr über den Menschen Usain Bolt? Ich bin der Meinung: ja. Mit einer Fussnote hätte man diesem Leser erklären können, wie das Interview zustande kam, diese Unterlassung kann man uns vorwerfen. Aber dass der „Tagi“ wie die „NZZ“ zu 100 Prozent an dem Interview beteiligt waren und das Gespräch genauso geführt wurde, ist eine Tatsache. Geschummelt hat hier keiner.
nun ja, werter herr geisser, über „geschummelt“ kann man sich füglich streiten. das ist eine frage der optik. ihre unterlassung, das inti so wie hier von anfang an zu deklarieren, ist einfach nicht mehr zeitgemäss und macht das stück letztlich zum schummelstück.
zudem hätte das inti einen mehrwert gehabt und es hätte ihre glaubwürdigkeit erhöht, wäre eine solche „disclosure“ von anfang an angefügt gewesen.
es muss ja nicht unbedingt sein, dass wir leser erst aufgrund einer wenn auch kleinen schummelei solche insights erhalten. oder?
Immerhin hat Remo Geisser hier jetzt für Transparenz gesorgt. Ist ja nicht selbstverständlich.
Bääh. Eine weitere Strophe in der Moritat des Interviews. Früher habe ich noch gelacht, wenn die B-Titel ein «persönliches Gespräch» mit einem Interviewpartner meldeten, heute sind solche AOC-Siegel schon fast ein Segen. Die Klassiker in absteigender Reihenfolge: 1. Telefon-«Interview», 2. «E-Mail-Interview», 3. Interview, wie es im Brockhaus aus Papier steht. Würde der ganze Schmarren proaktiv deklariert, die CH-Printpresse hätte ähnliche Glaubwürdigkeitsprobleme wie die Nora Dingsbums beim damaligen heute mit ihrem Rapper-Fake.
Ich möchte wieder Interviews von Tom Kummer lesen. Da war man jeweils auch ganz nah dran.
@ Remo Geisser: Doch, Herr Geisser. Hier wurde geschummelt. So lange nicht klar gemacht wird, wie das Interview entstanden ist, wurde geschummelt. So einfach ist das.
Die Erklärung, die Sie hier geliefert haben, hätte komplett zum Interview gestellt werden müssen. Eine Fußnote reicht da nicht aus. Der Leser (ich nennen ihn: Diskutant, Mitgestalter) hat diese Informationen verdient, er darf sie sogar verlangen. Und er darf und muss öffentlich danach fragen, wie das hier geschehen ist.
Es ehrt Sie allerdings, dass Sie sich an der Diskussion beteiligen. Denn (meine Schätzung) 99 Prozent der Journalisten bevorzugen die Einbahnstraßen-Kommunikation.
Journalisten haben die Pflicht, besonders natürlich bei derlei PR-Nummern, die Umstände der Entstehung des Produktes zu beschreiben und mitzuliefern.
Leider machen das nur wenige. Mir fällt ad hoc gerade mal die taz aus Berlin ein, die regelmäßig, und darauf kommt es an, solche Infos liefert. Ob sie das immer tut, weiß ich nicht.
In Blogs kann man derlei Hintergründe viel öfter lesen – da geht es in der Regel transparenter zu.
Disclosure: Ich arbeite auch für die NZZ und habe sogar schon für den Blick geschrieben – über Korruption in der FIFA, als der heutige FIFA-Kommunikationschef Walter de Gregorio beim Blick noch Sportchef war :)
Es ist gut, dass sich Remo Geisser hier erklärt hat. Das ist sehr zu schätzen. Dennoch finde ich es wichtig, hier klar zu machen, dass diese dem Publikum unterbreitete Form des Interviews ein klarer Verstoss gegen professionelle Regeln darstellt. Transparenz. Es ist jeweils wichtig, die Produktionsbedingungen offen zu legen. Vor allem dann, wenn das Publikum von allgemeinen Erwartungen ausgeht. Die Transparenz ist auch deshalb wichtig, weil damit gesagt werden kann, dass das Medium sonst nicht so arbeitet (oder eben ein Abweichen vom Normalfall vorliegt). Wichtig für die Glaubwürdigkeit. Das sollte auch im Sportjournalismus gelten; er ist ja auch Teil des Journalisus, dessen Ansehen durch solche dubiosen und intransparenten Praktiken leidet.
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Journalisten sollten wieder mehr Selbsbewusstsein zeigen und sich nicht jede Bedingung diktieren lassen für Interviews, Hintergrundgespräche etc.. Stars, ob im Sport oder Showbusiness, der Unterschied ist graduell, sind aufs Publikum angewiesen, allein schon wegen des „Werbe-Values“. Das muss man ihnen bez. ihren PR-Menschen hin und wieder klar machen.
Das lässt sich erreichen, wenn solche Umstände als nüchterne Story beschrieben und wenn auch Namen genannt werden. Leser interessieren sich durchaus für solche Werkstatt-Einblicke.
Das provoziert dann zwar vorübergehenden Aerger mit arroganten Medienagenten, auch mit den eigenen Kollegen, aber das macht nichts. Es wirkt, wenn das häufiger mal geschieht.
20 Minuten (wovon mindestens 5 Minuten Warmlauf-Blablaa) für 3 Journalisten: das sind entwürdigende Umstände, da kann nicht viel rüberkommen (sicher nicht eine ganze Seite!), was den Aufwand – auch den des Lesers – lohnte. Dann lässt man’s eben bleiben. Und dann hat’s die Konkurrenz!
Kann schon sein, aber Lesern ist es heute ziemlich egal, wo sie was zum ersten Mal gelesen haben. Exklusivität ist dank Internet sehr relativ geworden. Auch das macht nichts, denn dadurch steigt die Chance, mit Qualität zu punkten: z.B. mit Bolt kommen, dann aber richtig, wenn er nicht im Saisonstress ist und seine Werbeauftritte abspult, sondern sich mässig beschäftigt langweilt. Diese Durchhänger-Phasen gibts bei jedem Star. Dann sind sie womöglich auch ansprechbar.
Dann ist es aber nicht „aktuell“. – Macht ebenfalls nix. Aktualitätsgehampel ist Lesern heute viel mehr Schnuppe, als Newsdesk-Chefs, Blattmacher und Newsroom-Feldweibel wahrhaben wollen.
Man muss sich selber nichts vormachen: Wenn der grösste Medienkonzern des Landes sich selbst als „Entertainment Company“ versteht , zugleich der grösste Ticket-Makler ist und Grossevents gleich selber organisiert, um dann zwecks Promotion über eigene Medienkanäle Jubelstories darüber zu verbreiten – manchmal wochenlang, wenn der Ticketabsatz harzt -, garniert mit „Exklusivinterviews“ , wird ernstzunehmender Journalismus langsam aber stetig aufgerieben.
Aber all diese Mechanismen kann man ja beschreiben. Leser interessiert sowas, auch wenn es zu gewissen Desillusionierungen führt, die in die Frage münden, ob man für gekauften Journalismus auch noch Geld ausgeben soll. Wär ja doppelt bezahlt.
Was für ein Sturm im Wasserglas in den Kommentaren. Und natürlich kommt auch noch Herr Weinreich dazu (nicht ohne sich entsprechend in Szene zu setzen.) Wer sich für die Antworten auf diese Fragen interessiert, sind die Hintergründe dieses PR-Termins gleichgültig. Ansonsten: Laßt ihn doch einfach laufen.
Ja, es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass Interviews aus einer Gesprächsrunde mit Kollegen zusammengebastelt werden. Das ist keine Pressekonferenz. Normalerweise sitzt man mit 5 bis 10 Kollegen in einem Raum und jeder kann fragen. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob das in Ordnung ist. Ich finde: Es kommt auf den Hintergrund des Gesprächs an und mit wem es geführt wird. Bei Husain Bolt finde ich das völlig in Ordnung. Übrigens liegt das nicht daran, dass wir Journalisten keine 1zu1 Gespräche führen WOLLEN. Vielmehr ist es so, dass sich das ab einem gewissen Bekanntheitsgrad des Interviewpartners schwierig gestaltet. Es heißt: Entweder so oder gar nicht. Und das die Fragen und Antworten hier etwas anders klingen ist ja völlig klar: Das Interview wurde auf Englisch geführt und ist damit frei übersetzt. Ich finde: Aufregung um Nichts. Vor allem wenn man den journalistischen Alltag nicht kennt und sich aufs Rumgemecker konzentriert.
Solche Beispiele wirken für sich genommen immer marginal. Aber in der Masse sind sie eben nicht marginal. Gewisse Mechanismen sind durchgängig, nicht allein im Sport. Da kann man nicht einfach locker drüber weghüpfen.
@ben das ist nicht rumgemecker, sondern nur die bescheidene leserforderung nach journalistischer trasparenz. wenn dieser seltsame workflow bei sportschurnis so üblich ist, macht es die sache noch viel übler. und beweist einmal mehr das klischee, das sportjournalismus mit journalismus selten viel zu tun hat.
Niemand kritisiert, dass Journalisten in Gesprächsgruppen irgendwelche Menschen interviewen. Und niemand kritisiert, dass die dabei ermittelten Aussagen von den anwesenden Fragestellern ausgewertet und veröffentlicht werden.
Was zu bemängeln ist: Besonders im Sportjournalismus sind bedenkliche Sitten eingerissen, die allesamt den Eindruck erwecken, als ob es nicht mehr um Wahrhaftigkeit und Genauigkeit in der Berichterstattung geht (und eigentlich auch gar nicht mehr um Berichterstattung), sondern um ein starfixiertes Anwanzen an die populären Typen aus der Arena. Es kann schon sein, dass die meisten Leser die auf diesem Weg generierten „Informationen“ goutieren. Aber da sie gar nicht wissen, wie diese „Informationen“ zustandekommen, haben sie gar nicht die Möglichkeit, einen unabhängigen Standpunkt zu beziehen.
Die Tatsache, dass es immer schwieriger wird, Zugang zu Sportlern zu bekommen, sollte bitte nicht dazu verwendet werden, ein Verhalten wie in diesem Fall zu rechtfertigen. Es sollte eigentlich das Gegenteil provozieren: Journalisten dazu bringen, sich auf ihre Kernaufgabe zu besinnen und ihre Rolle zu hinterfragen. Die besteht nicht darin, den Stars Stichwörter zu geben und ihnen bei ihren Antworten gebannt an den Lippen zu hängen.
Leute wie Bolt werden abgeschirmt wir Präsidenten. Auch die Agenda gleicht sich. Da muss man sich nichts vormachen. Entweder nach den Bedingungen der Organisatoren und der Bolt-Truppe oder gar nicht.
Die Interviewumstände hätte man offenlegen sollen. Auf der anderen Seite ist es klar, dass es mit Bolt kein Exklusivinterview kurz vor einem Wettkampf gibt.
Mich interessiert vielmehr von Beteiligten ob denn 20 Minuten nicht ein wenig mehr hergeben können? Hat es keinen Raum für neue Fragen? Oder sind die Fragen vorgegeben? Im Interview erfuhr man nichts Neues. Ich gehe davon aus, dass 95% der Leser die Antworten von Bolt irgendwo schon einmal gelesen/gehört haben.
Jens Weinreich hat recht, die taz hat regelmäßig notiert, wenn sie Interviews in einem Journalistenpool führte und zu Beginn ausführlich begründet, warum sie dieses Verfahren akzeptiert hat. Ich kann gut damit leben und habe auch Verständnis dafür, dass populäre (um nicht zu sagen „gefragte“) Sportler weder Zeit noch Lust haben, 1000-mal die gleichen Interviews zu absolvieren. Ein Interview mit 3 Journalisten gleichzeitig erhöht zudem die Chance, mit einer originellen Frage konfrontiert zu werden. Noch konsequenter wäre, wenn EINE JournalistIn vorab die nächstligenden Fragen stellen würde (50 Fragen an den Star, die Lieschen Müller auch eingefallen wären), die alle Medien zusammen mit den Antworten in ihre „Interviews“ einbauen dürften; die folgenden InterviewerInnen dürften dann die darin bereits behandelten Themen nicht mehr ansprechen, bei Strafe sofortigen Gesprächsendes. Wäre für alle Beteiligten angenehmer… Es bricht auch keinem eine Zacke aus der Krone, das Poolinterview transparent zu veröffentlichen, zumindest, solange die beteiligte KollegInnen für satisfaktionsfähige Medien arbeiten. Im Übrigen sind die vermeintliche „Exklusivität“ und „Aktualität“ im Internetzeitalter ohnehin zweifelhaft und oft genug entlarvt worden (-> Bildblog).
(Ein Beispiel für die transparente Verwertunng eines Poolinterviews finden Sie unter http://www.taz.de/!96151/ im Redaktionshinweis „Poldi im Pool“.)
Wenn ich hier nicht etwas falsch verstehe, dann liegt das Problem (weniger) bei der Art und Weise, in der das Interview durchgeführt wurde, sondern bei der Art, wie die Zeitungen damit umgegangen sind, insbesondere im Hinblick auf die Antworten Bolts.
Bolts ist Jamaikaner. Dort wird Englisch gesprochen (Amtssprache) und unter den Einheimischen meist Patois. Von Deutschkenntnissen Bolts ist nichts bekannt, so dass das Interview vermutlich auf Englisch geführt wurde.
Wenn man sich jetzt den ersten Kommentar von Mara Meier ansieht, der die Antworten erhält, dann ergibt sich z. B.:
Laut NZZ lautet die Antwort „Gute Frage“, laut Tages-Anzeiger „Schwierige Frage“.
In einem anderen Fall lautet die Antwort laut NZZ „Nein“, laut Tages-Anzeige „Nie“.
Dafür gibt es nur drei überhaupt theoretisch denkbare mögliche Erklärungen:
1. Bolt hat die ihm gestellten Frage mehrmals hintereinander mit Abweichungen beantwortet, für jede Zeitung anders. (Wohl kaum.)
2. Die Englischkenntnisse der Journalisten sind so schlecht, dass sie „Good Question“ von „Difficult Question“ nicht unterscheiden können, ebensowenig den Unterschied zwischen „No“ und „Never“.
3. Die Zeitungen haben sich zur Vertuschung der Umstände, unter den das Interview zustande kam, um zu vermeiden, dass der Leser bemerkt, dass er dieselben Informationen auch bei anderen Blättern erhielte, abgesprochen und dieselben Antworten unterschiedlich übersetzt, abweichend vom tatsächlichen Wortlaut und vom tatsächlich Gemeinten. (Ob man eine Frage „gut“ findet, etwa weil sie einen überrascht und mal etwas neues ist, oder weil sie es einem erlaubt, mal über etwas zu sprechen, über das man gerne sprechen will, oder ob man sie schwierig findet, etwa weil man dafür erst einmal keine Antwort hat, ist ein himmelweiter Unterschied.) Diese dritte Variante würde aber bedeuten, dass die Journalisten nicht nur weniger transparent arbeiteten, als das wünschenswert gewesen wären, sondern dass sie journalistisch sauberes Arbeiten, nämlich Antworten des Interviewten unverfälscht und inhaltlich korrekt wiederzugeben bewusst geopfert haben, um ihre Leser bewusst zu täuschen.
Habe ich das falsch verstanden?
Und ist es falsch, wenn ich Variante 3 für die Wahrscheinlichste halte?
gerade eine sehr entlarvende und witzige geschichte gelesen, die den sportjournalismus träf entlarvt. passt sehr gut zu dieser diskussion hier.
http://www.twitlonger.com/show/j322tm
Der passende Kommentar von David Sieber, Chefredaktor der „Südostschweiz“ erscheint erst morgen, daher gibt’s noch keinen Link. Der Text sei hier via facebook zitiert:
„Aus aktuellem anlass und weil mich schon lange nichts mehr so sauer gemacht hat, mein kommentar von morgen schon heute:
Kommentar
Ringier hat den Journalismus aufgegeben
Von David Sieber
Der Medienkonzern Ringier ist mit einem klassischen Verlagshaus nicht mehr zu vergleichen. Das Handelsgut ist nicht mehr die Information. Das Unternehmen hat frühzeitig erkannt, dass die Nachricht als solche aufgrund der Gratiskultur keinen Wert mehr hat. Die Lösung: Man nimmt die Protagonisten, welche typischerweise die Ringier-Produkte bevölkern, unter Vertrag. Dann kauft man sich einen Konzertveranstalter, vermarktet die oberste Schweizer Fussballliga und hat schwupps eine Wertschöpfungskette geknüpft.
Nehmen wir also an, Schwergewichtsboxer Wladimir Klitschko würde seinen WM-Titel an einer Ringier-Veranstaltung in Bern verteidigen. Zur Einstimmung sänge der von Ringier gemanagte Gölä etwas von Staub auf der Lunge. Und die Ringier-Produkte «Blick», «Blick am Abend», «Sonntagsblick» und blick.ch würden im
Vorfeld seitenweise über jede noch so kleine Begebenheit berichten, die extra dafür von Ringier inszeniert worden wäre – natürlich in den höchsten Tönen und in rosaroten Farben. Das wäre fast wie
eine Lizenz zum Geldrucken. Was Ringier auch reichlich getan hat. Denn der Kampf fand diesen Juli tatsächlich statt.
Kein Wunder, zündet Ringier nun die nächste Stufe und verpflichtet Nati-Trainer Othmar Hitzfeld. Damit sichert sich der Konzern nicht nur einen grossen Namen im Fussballgeschäft, sondern kauft sich gleich eine ganze Fussball-Nationalmannschaft. Diese wird künftig medial nach Ringiers Pfeife tanzen. Das exklusive Zugangsrecht sichert den konzerneigenen Medien einen Informationsvorsprung. Den Preis, den die
Journalisten zu bezahlen haben, ist allerdings hoch: Sie geben ihre Unabhängigkeit auf. Noch dem grössten Grottenkick der Nati müssen sie fortan positive Aspekte abgewinnen.
Umgekehrt ist Hitzfeld nun auf Gedeih und Verderben an Ringier gekettet. Er hat seine Seele verkauft. Für einen Fan ist das mindestens so unerträglich, wie für einen Journalisten Ringiers Verrat an dessen Berufsstand.
dsieber@suedostschweiz.ch
Drei Journalisten sitzen am Tisch mit Usain Bolt. Sie stellen ihm Fragen, und er beantwortet die Fragen. Am Schluss ist das ein Interview. Kommt es da drauf an, wer genau die Frage gestellt hat? Die drei Journalisten haben sich miteinander abgesprochen, keiner hat dem anderen unerlaubterweise abgeschrieben. Und Bolt hat die Fragen beantwortet. Ich sehe also das Problem nicht. Bei Reportagen steht schliesslich auch nicht in jedem zweiten Satz, wer genau wann an welchem Tisch sass. Hauptsache, inhaltlich stimmt’s, und der Interviewte wird so zitiert, wie er es gesagt hat. (Was allerdings bedingt, dass die Fragen und Antworten nicht hinterher noch massiv umformuliert werden.)
Pingback: Wochenrückblick #10 » ÜberSee-Mädchen
anderswo werden lange paragraphen geschrieben, um die situation zu (er-)klären: http://www.wired.com/wiredscience/2012/09/the-vagina-scientist-strikes-back-dr-jim-pfauss-defense-of-naomi-wolf-fact-checked/