- «‹Wir müssen das in unsere Köpfe kriegen: Da draussen sind Tausende Experten – ein wahrer Schatz an Informationen›, sagte Alan Rusbridge[r], der Chef des britischen ‹Guardian›, kürzlich in einem Referat über Bürgerjournalismus. Man müsse sich verabschieden von der Vorstellung, der Profijournalist sei der allwissende Nachrichtenvermittler und entscheide alleine, was wichtig sei»,
schrieb der «Tages-Anzeiger» in seiner gestrigen Ausgabe (Artikel online nicht frei zugänglich; Ausschnitte aus Rusbridgers Referat gibt’s aber hier).
Der Rusbridger soll tun, was er will, scheint man sich beim «Magazin» aus dem Hause Tamedia zu sagen, wir machen bei diesem Scheiss sicher nicht mit. Was gehen uns denn unsere Leser an!
Oder gibt es eine andere Erklärung dafür, dass sowohl die Kommentarfunktion als auch alle bisherigen, zum Teil mit viel Herzblut geschriebenen Lesermeinungen kurzerhand von der Website des «Magazins» entfernt, gelöscht und weggeputzt worden sind?
Der Dreck muss endlich weg, hat sich «Magazin»-Chefredaktor Finn Canonica offenbar gesagt, denn (via «persoenlich.com»)
- «Kommentare zu Artikeln auf dem Web sind manchmal sehr ‹dahingerotzt›, oft wird gar nicht auf den Artikel eingegangen. Die User nutzen die Gelegenheit, um irgendwelchen sonstigen Ballast loszuwerden.»
Talk about Geringschätzung der Leserschaft! (Was Canonica mit «Rotz» und «Ballast» unter anderem gemeint haben könnte, hat Nachbar Ugugu für die Nachwelt festgehalten.)
Von diesem Internetzeugs hält Canonica – zumindest persönlich – ohnehin nicht viel, wie er gegenüber «persoenlich.com» ausführte:
- «Ich persönlich bin skeptisch geworden gegenüber den journalistischen Möglichkeiten im Internet. Das Gerede um die Möglichkeiten des Citizen Journalism begreife ich nicht. Wir sollten uns allmählich Gedanken machen, ob es klug ist, qualitativ hochstehende Inhalte kostenlos anzubieten.»
Vor ziemlich genau zwei Jahren hat das noch ziemlich anders getönt:
- «Das Magazin Online ist als Wiki, das heisst als Kollaborationsplattform angelegt. […] Die Magazin-Webseite soll uns helfen, bessere Beiträge zu publizieren. Die Bedingung dafür ist Interaktivität. Das Magazin Online soll zur Schnittstelle zwischen Leser und Schreiber werden. Wir hoffen auf zahlreiche Leserbeiträge in den Bereichen Kommentar, Informationszulieferung und Leserbeiträge, die die Printausgabe als Endprodukt noch lebendiger, informativer, aufregender machen.»
Der dies schrieb, war nicht etwa «Tagi-Magi»-Chefredaktor Finn Canonica, sondern der in Tokio residierende, sehr selbstbewusste und durchaus kluge Information Architect aka Designer Oliver Reichenstein, der für den damaligen Relaunch der «Magazin»-Website verantwortlich zeichnete.
Man lobt sich ja (un)gern selbst, aber im Februar 2008 stand an dieser Stelle geschrieben:
- «Man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein wenig an der Realität vorbeientwickelt wird. Denn alle Web-2.0-Features helfen nichts, wenn der Mensch, in diesem Fall der Printredaktor, die Printredaktorin – und mögen sie sich noch so trendy und urban geben -, nicht mithalten mag.
Könnte es sein, dass ein von mir durchaus geschätzter Informationsarchitekt die Anpassungsfähigkeit, die Innovationsbereitschaft und nicht zuletzt das Zeitbudget einer etablierten, aber kleinen Printredaktion falsch eingeschätzt hat?
Könnte es sein, dass die Konzeption eines journalistischen Webangebots nicht einfach an externe und geografisch weit entfernt lebende Entwickler delegiert werden sollte? Müsste der Lead für ein derartiges Projekt nicht vielmehr bei der betreffenden Redaktion liegen?
Und könnte es sein, dass es sich bei der Website des «Magazins» gleichsam um einen Selbstläufer handelt?»
Siehe dazu auch:
– «Das Magazin» und die Leserbeteiligung
– Mitmach-«Magi»
Update: Man lese bitte auch den Kommentar von Medienspiegel-Kolumnist Fred David auf «medienlese.com». Einige – zumindest für mich – zentrale Aussagen:
- «Ich erlaub mir jetzt enfach mal ein bisschen kollegiale Häme, Herr Canonica. Die dürfen nämlich nicht nur Journalisten frei kreieren und verbreiten. Sie dürfen sie auch mal in Empfang nehmen, ohne dass ihnen dabei das Visier der Ritterüstung runterklappt. Man muss sich vielleicht mal die Mühe machen, solche Leserforen zu moderieren, auf Lesermeinungen, ja doch, auch auf unflätige, einzugehen. Gegenangriff ist natürlich erlaubt, aber nicht vom Gaul herab: auf Augenhöhe.
[…]
Von selber laufen solche Foren nicht. Man muss sie anregen, darf sie auch anheizen, muss sie dann aber unauffällig begleiten.
[…]
Ich behaupte, gerade das ‹Magazin› hat eine ganze Menge nicht-dummer Leser, die man durchaus zu spannenden Debatten animieren kann. Wenn man will. Aber das bedeutet Arbeit, und zwar viel Arbeit, und es bedeutet, sich auf die Ebene der Leser/user herbeizulassen.»
Update, 12. Juni 2009: Und plötzlich sind «Rotz» und «Ballast» wieder da. Auf der «Magazin»-Website kann wieder kommentiert werden. Ob da die Linke nicht weiss, was die Rechte tut?
das ganze ist eine geldfrage: sprich: auch beim magazin wurde vermutlich das kosten-hackebeil angesetzt. und da tut es der redaktion bei der kommentar-moderation am wenigsten weh.
Was Canonica sagt, könnte er direkt von den Lippen des erwähnten Informationsarchitekten abgelesen haben … Meinungsfreiheit hört leider für die meisten dort auf, wo nicht mehr nur Lobhudelei zu lesen ist.
Wenn man schon von «dahingerotzten» Kommentaren sprechen will, dann trifft dies eher auf die Website des Mutterblattes, diejenige des Tagesanzeigers, zu. Was kaum erstaunt, denn dort gibt es ja auch eine Begrenzung von 400 Zeichen, was sinnvolle Beiträge von vornherein im Keim erstickt. Entsprechend tief ist das Niveau – aber umso reger wird in die Tasten gehauen.
Doch auf der «Magazin»-Website wird die Kommentarfunktion abgewürgt, auf tagesanzeiger.ch bleibt sie bestehen. Ein Schelm, wer sich dabei denkt, es könne damit zu tun haben, dass so die Zugriffsstatistik zuhanden der Werbewirtschaft künstlich hochgehalten werde. Masse statt Klasse, anything counts in large amounts.
Finn ist die scharfe wie berechtigte kritik an der neuausrichtung des tagi-magi zu einer anabelle für studiumabbrecher einfach in den falschen hals geraten. Der bube glaubt immer noch, dass das, was er und seine redaktionskollegen in der züri-szene so aufschnappen, wirklich weltbewegend ist. Wetten, dass die meisten so bewundernden leserbriefe in der print-ausgabe von ihren eigenen kollegen stammen. Ich brauche das magazin nur noch, um nasse schuhe zu stopfen. Wobei 20minuten eigentlich saugfähiger ist.
Die Kommentare könnten tatsächlich wertvoll sein – wenn man viel Arbeit in sie investiert, wie ja im Eintrag auch geschrieben steht. Aus eigener Redaktionserfahrung weiss ich aber, dass sich in diesen Kommentar-Foren vom Niveau her eher der Bodensatz der Leserschaft sammelt. Alle anderen werden durch die Gesprächskultur sehr schnell wieder weggescheucht.
Um die Kommentare sinnvoll einzusetzen, bräuchte es entsprechende klare Regeln (um die sich die meisten Anbieter foutieren) und vor allem Manpower: für die Bewirtschaftung braucht’s eine Stelle, die den ganzen Tag über da ist (auch und gerade am Wochenende) und auch den Morgen und den späteren Abend abdeckt. Dazu bräuchte es jeden Tag zwei Leute, die sich prioritär dieser Aufgabe widmen. Das will sich schon in guten Zeiten niemand leisten, und aktuell liegt’s erst recht nicht drin! Mitmach-Journalismus kann einen tollen Mehrwert bringen. Allerdings haben die meisten Betreiber den Eindruck, dass es vor allem ein Weg ist, gratis und mit kleinstem Aufwand an neue Inhalte zu kommen. Wohin diese Haltung führt, kann man ja jetzt beim Magazin sehen.